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Meine Mutter sang Lieder - Ein Buch von Ilham Yılmaz

Autorenbild: Ilkin TemoçinIlkin Temoçin

Aktualisiert: vor 2 Tagen

Mein Vorwort zur Übersetzung


Heimat ist ein besonderer Begriff. Für mich ist er nicht nur ein Ort, sondern ein tiefes Gefühl, das uns begleitet, egal wo wir leben. Seit über zwei Jahrzehnten baue ich mir fernab meiner ursprünglichen Heimat ein neues Zuhause auf. Doch meine Wurzeln lebendig zu halten und sie mit meinem neuen Leben zu verbinden, war mir immer ein Herzensanliegen.

Das Buch "Benim Annem şark söylerdi" (Meine Mutter sang Lieder) von meiner Tante Ilham hat mich tief berührt, denn es erzählt nicht nur von einer Kindheit voller Erinnerungen, sondern auch von der Bedeutung der Familie – einer Verbundenheit, die keine Entfernungen kennt. Ilham zeigt uns, dass Heimat nicht an einen Ort gebunden ist, sondern in den Geschichten und der Liebe der Menschen weiterlebt, die uns geprägt haben. In ihren Erzählungen spüre ich nicht nur die Atmosphäre einer vergangenen Zeit, sondern auch die Kraft familiärer Bande, die selbst über weite Distanzen Bestand haben.


Mit dieser Übersetzung wollte ich nicht nur die Kultur und das Leben meiner ursprünglichen Heimat bewahren, sondern auch eine Brücke schlagen – zwischen der Welt, aus der ich komme, und dem Zuhause, das ich heute in Wien mit meiner Familie gefunden habe. Es ist mir wichtig, dass meine liebe Frau und ihre Eltern, die den Begriff "Familie" genauso hochschätzen, nicht nur meine Herkunft besser kennenlernen, sondern auch die enge familiäre Verbundenheit spüren, die uns über Generationen hinweg verbindet. Denn Heimat bedeutet nicht nur, woher wir kommen, sondern auch, wie wir unsere Beziehungen pflegen – unabhängig von Zeit und Entfernung.


Dieses Buch auf Deutsch zu verewigen, war für mich eine Reise durch Erinnerungen, Werte und Gefühle. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser – egal, wo sie leben – in diesen Zeilen nicht nur ein Stück Heimat, sondern auch die Bedeutung von Familie und Zusammenhalt wiederfinden.


Herzlichst,

Ilkin


 

Vorwort von Fatoş


Die Kindheit prägt den Charakter eines Menschen am stärksten. Erlebnisse aus dieser Zeit hinterlassen tiefe Spuren in der Seele und begleiten uns ein Leben lang.

Demirci, ein Dorf in der Provinz Manisa, eingebettet in Weinberge voller Walnuss-, Feigen- und Jujubenbäume, ist ein Ort, der für seine bodenständige Lebensweise und seine enge Verbundenheit mit Traditionen bekannt ist. Zugleich hat die Region im Geist der jungen Republik viele kreative und kluge Köpfe hervorgebracht. Eine dieser Persönlichkeiten ist İlham Yılmaz (Gümrükçü), die mit diesem Buch ihre Kindheits- und Jugendjahre in berührenden Anekdoten festhält. Beim Lesen dieser Erinnerungen wird euch sicher ein Lächeln auf die Lippen gezaubert und ihr werdet in eure eigenen Erinnerungen eintauchen. Lasst euch überraschen, was euch zwischen den Zeilen erwartet...

Viel Freude beim Lesen und herzlichen Dank, liebe İlham!


Fatoş Ersin

 

Einleitung


Das Aufwachsen in einer großen Familie bescherte mir unzählige Erinnerungen, die mich bis heute begleiten. Während meiner 70 Lebensjahre hatte ich schon lange den Wunsch, meine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben und meinen Kindern und Enkelkindern zu hinterlassen. Doch der Alltag und die Arbeit ließen es oft nicht zu, und so schob ich es immer wieder auf. Bevor es jedoch zu spät wird und ich nicht irgendwann sagen muss „Wenn ich es doch nur getan hätte“, habe ich mich entschlossen, meine Erinnerungen festzuhalten – durch die Augen meines kindlichen Ichs, das durch die steilen Gassen von Demirci blickt.


Was ihr hier in den Händen haltet, ist kein literarisches Meisterwerk, sondern eine schlichte Sammlung meiner Erinnerungen. Ich nenne es deshalb „Meine Mutter sang Lieder“. Warum dieser Titel? Meine geliebte Mutter, die sich nie über die Mühen des Alltags oder die Herausforderungen der Erziehung von vier Kindern beklagte, füllte unser Zuhause mit Liedern. War sie glücklich, sang sie:


„Yeşilim, yeşilim / Yeşil yaprak altında üşüdüm“ (Mein Grün, mein Grün / Ich fror unter dem grünen Blatt)


War sie hingegen traurig, erinnerte sie sich an ihre früh verstorbene Mutter Azize und sang:

„Aman Doktor, canım gülüm doktor, derdime bir çare, / Çaresiz dertlere düştüm, derdime bir çare.” (Ach, Doktor, mein Liebster, mein Blümchen, hilf mir doch / Ich bin in endloses Leid gefallen, gib mir Trost)


Meine Mutter war unser Radio, das je nach Stimmung ein anderes Lied spielte. Mit ihrer Güte und ihrer Stimme bleibt sie in meinem Herzen unvergessen, und mit diesem Buch möchte ich sie ehren. Meine Erinnerungen mögen bei euch andere Gedanken hervorrufen, und vielleicht werdet ihr sagen: „So war es doch, nein, es war anders...“ Wenn ihr eure eigenen Geschichten mit mir teilen möchtet, freue ich mich über Feedback. Wer weiß, vielleicht werden eure Erinnerungen Teil einer zweiten Sammlung.


Ich hoffe, ihr findet in diesen Seiten ein Stück eurer eigenen Kindheit oder Jugend und lasst euch auf eine Zeitreise entführen, die euch Freude bereitet.


Viel Spaß beim Lesen!


Demirci: Meine Kindheit


Während meiner Zeit an der Universität, als ich am „Demirci Wissen-Fest" teilnahm, hatte ich die Gelegenheit, Nachforschungen über den Ursprung des Namens Demirci anzustellen. Es existieren mehrere Theorien darüber. Der Berg, den man heute Demirci-Berg nennt, wurde früher als Temiros-Berg bezeichnet, und auch der Fluss, der durch die Stadt fließt, trug den Namen Temiros-Fluss. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass der ursprüngliche Name der Stadt Temiros war und sich mit der Zeit in Demirci wandelte.

In Evliya Çelebis Reiseberichten (Band 9, Seiten 47–51) wird Demirci als „Ahengeran“ erwähnt, was auf die Schmiedekunst verweist. Andere Studien belegen, dass sich auf dem heutigen Marktplatz, hinter dem alten Rathaus, einst ein Basar befand, der als „Schmiedemarkt“ bekannt war. Während meiner Kindheit gab es in Demirci ein Geschäft namens Ali Yavuz Bakkalı, in dem wir Zucker, Kekse und allerlei andere Dinge kauften. In einem nahegelegenen Laden, der einem griechischen Stoffhändler namens „Lord“ gehörte, waren auf den metallenen Rollläden die Inschriften „Temurçi Temurroslu Laden“ und „Demirci Stoffgeschäft“ zu lesen. All dies deutet darauf hin, dass der Name Demirci tatsächlich seinen Ursprung im Schmiedehandwerk hat und dass in jener Zeit verschiedene Minderheiten hier lebten.


Auch wenn wir nicht mit letzter Sicherheit sagen können, welche Theorie die richtige ist, so begann für mich persönlich meine Kindheit und Jugend in Demirci, genauer gesagt im Hacı-Hasan-Viertel, in der Tahtacı-Pınar-Straße Nr. 34. Bis 1971 lebte ich dort. Auch nach unserem Umzug nach Izmir ließ mich die Sehnsucht nach meiner Heimat nicht los. In meinen Träumen wanderte ich oft durch die Straßen von Demirci, besuchte die Ziya-Gökalp-Grundschule oder verirrte mich auf dem Weg zu meinen Tanten.


Später hielt ich durch Kongresse und private Besuche stets den Kontakt zu Demirci aufrecht und ließ keine Gelegenheit aus, meine Heimat zu besuchen. Noch heute haben wir in unserem Haus in Manisa ein Zimmer, das wir „Demirci-Ecke“ nennen. Dort bewahre ich Teppichmuster, handgefertigte Gegenstände und traditionelle Traubenernte-Körbe auf – Erinnerungsstücke, die mich immer wieder in jene schönen Tage meiner Kindheit zurückversetzen.


Die Demirci-Ecke in unserem Haus in Manisa
Die Demirci-Ecke in unserem Haus in Manisa

Anton Tschechow sagte: „Ein Mensch kann an einem Ort, an dem er sich fremd fühlt, nicht glücklich werden.“ Ist unser Schicksal durch die Geografie bestimmt oder durch das Haus, in dem wir geboren wurden? Ich weiß es nicht. Aber meine Reise des Lebens begann in Demirci, und ich habe mich dort immer zugehörig gefühlt. Vielleicht war es genau das, was mich so glücklich gemacht hat. In meinem Leben, das eine Sammlung gelebter Erinnerungen ist, bin ich zutiefst dankbar, dass meine Kindheitsjahre dort verankert sind. Manche Menschen fliehen vor ihrer Vergangenheit, andere leben mit ihr. Ich habe mich nie von meiner Vergangenheit abgewandt. Im Gegenteil – die Jahre, die ich in Demirci verbracht habe, sind für mich immer ein Grund zum Stolz gewesen.


Es gibt Menschen, die, wenn man sie fragt, woher sie kommen, mit „Eigentlich aus…“ antworten, obwohl sie ihre Heimat nie besucht haben. Ich hingegen habe jede Gelegenheit genutzt, meine Kinder und Enkel nach Demirci zu bringen. Während ich ihnen meine Erinnerungen erzähle, fühle ich mich, als würde ich jene Jahre noch einmal durchleben.

Wie ich bereits sagte, wuchs ich in einer großen Familie auf. In einer wirklich großen Familie aufzuwachsen und von den Familienältesten verwöhnt zu werden, war ein wunderschönes Gefühl. Während wir heranwuchsen, nahmen sie unsere Streiche, unsere Erfolge und Misserfolge mit Nachsicht hin. Sie versuchten stets, uns das Richtige und Schöne zu vermitteln.


Mein Großvater Mustafa Aysal
Mein Großvater Mustafa Aysal

Mein Großvater (der Vater meiner Mutter), mein Vater, meine Tante Hatice und meine Tante Gönül verwöhnten mich in meiner Kindheit auf eine Weise, die mir damals vielleicht nicht bewusst war, mir aber dennoch große Freude bereitete. Mein Großvater war ein pensionierter Soldat und hatte als „Tabur İmamı“ – Bataillonsimam – gedient. Daher wurde unser Familienname mit diesem Beinamen verbunden und wir wurden als „die Familie des Tabur İmamı“ bekannt. Er verstarb, als ich noch sehr klein war. Ich erinnere mich an ihn, wie er in dem Stuhl saß, den mein Vater für ihn angefertigt hatte, damit er bequem sitzen konnte. Da seine Hände zitterten, fütterte meine Mutter ihn mit viel Fürsorge. Dieses Bild ist mir bis heute in Erinnerung geblieben.

Während meine Mutter meinen Großvater beim Essen unterstützte
Während meine Mutter meinen Großvater beim Essen unterstützte

Wie jedes Kind liebte ich es, draußen auf der Straße zu spielen. Doch sobald ich am Abend das Geräusch des Autos hörte, das die Steigung hinauffuhr, wusste ich, dass mein Vater nach Hause kam – und ich ließ das Spiel sofort liegen, um ins Haus zu gehen. An schulfreien Tagen begann für mich das Zeitgefühl erst nach dem Frühstück mit unseren Spielen. Danach brachte ich meinen Großvater in das Café auf dem Markt, setzte ihn auf einen Stuhl und sorgte dafür, dass er es bequem hatte. Egal, wie vertieft ich ins Spielen war, ich vergaß nie, wann es Zeit war, ihn wieder abzuholen. Auf dem Rückweg gab mir mein Großvater immer Geld, damit ich bei Sabri Bakkal Süßigkeiten kaufen konnte. Damals gab es nicht die riesige Auswahl an Schokolade und Bonbons, wie sie heute in den Läden zu finden ist – daher fiel mir die Entscheidung leicht. Heute bringe ich meine Enkelkinder nicht mehr zum kleinen Laden an der Ecke, sondern in den Supermarkt. Wenn ich sehe, wie schwer es ihnen fällt, sich bei der großen Auswahl zu entscheiden, wird mir bewusst, wie klein und überschaubar unsere Welt damals war – und wie einfach.

Vor der Tür unseres Hauses mit meiner Freundin Zerrin (Handan und meine Mutter verabschieden uns zur Schule).
Vor der Tür unseres Hauses mit meiner Freundin Zerrin (Handan und meine Mutter verabschieden uns zur Schule).

Die steilen Hügel von Demirci haben uns vielleicht unbewusst auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet. Denn am Ende eines Anstiegs wartete stets ein Ziel auf uns.

Unser Haus befand sich in einer Lage, die man heute als „Höhenunterschied“ bezeichnen würde. Die Tür unseres Hauses in der Tahtacı-Pınar-Straße, Hausnummer 34, im Hacı-Hasan-Viertel, war eine zweiflügelige braune Tür. Sie hatte eine kleine Öffnung, die wir „Kuzuluk“ (Lammdurchgang) nannten, ähnlich einem kleinen Fenster. Warum sie diesen Namen trug, weiß ich nicht – und ich habe nie erlebt, dass dort tatsächlich ein Lamm hindurchging! Vermutlich diente sie dazu, zu sehen, wer vor der Tür stand, ohne sie direkt öffnen zu müssen. Das Haus hatte drei Etagen – ein sogenanntes „Triplex“, wie man es heute nennen würde. Damals war uns der Wert dieses Hauses nicht bewusst. Im oberen Stockwerk gab es drei Zimmer, ein Wohnzimmer und einen Balkon. Wann immer das Wetter es zuließ, verbrachten wir viel Zeit auf dem Balkon, der mit den Blumen geschmückt war, die mein Vater liebevoll pflegte.

Mit meiner Mutter auf dem Balkon unseres Hauses
Mit meiner Mutter auf dem Balkon unseres Hauses

Unser wertvollstes Zimmer war das Gästezimmer. Der auffälligste Teil des Raumes war das kunstvolle Muster an der Wand, das mein Vater eigenhändig gezeichnet hatte. Die Tür dieses Zimmers wurde nur geöffnet, wenn wir Besuch bekamen. Ansonsten verbrachten wir unsere Zeit meist im Wohnzimmer. Dort stand ein besonderer Stuhl, der sich von den anderen Sitzmöbeln abhob – ein aus Bambus gefertigter Sessel. Meine Mutter hatte ihn mit einer schönen Decke verziert. Einmal wurde er sogar als Bühnendekoration für die Schulaufführung meiner älteren Cousine Saime verwendet. Danach diente er auch bei anderen Aufführungen als zentrales Dekorationselement. Wenn wir zu Hause Fotos machten, saßen wir entweder auf dem mit Nelken bestickten Sofa meiner Mutter oder auf diesem besonderen Bambusstuhl.


Im mittleren Stockwerk befanden sich die Küche und das Esszimmer, das Badezimmer, die Toilette, eine Vorratskammer für unsere Wintervorräte und unter der Treppe der Kohlenkeller. Wahrscheinlich wegen der vielen Gruselgeschichten, die man uns in der Kindheit erzählte, hatte ich nachts große Angst, an diesem dunklen Bereich vorbeizugehen.

Im Badezimmer wurde der Holzboiler angezündet, und an diesem Tag badeten wir dann alle nacheinander. Danach wünschten wir uns gegenseitig mit den Worten „Sıhhatler olsun“ Gesundheit und Wohlbefinden.

Ümran, Handan und ihre Puppe
Ümran, Handan und ihre Puppe

Im Erdgeschoss befanden sich unser Holzlager und der Hühnerstall. Dort hielten wir Hühner, die gelegentlich Eier legten. Diese sammelten wir leise ein und baten unsere Mutter, sie uns zum Frühstück zuzubereiten. Neben den Hühnern hatten wir auch einen Hahn und sogar einen Truthahn. Manchmal neckten wir den Truthahn mit den Worten:

"Kabaramazsın kel Fatma, Annen güzel sen çirkin" (Du kannst dich nicht aufplustern, kahlköpfige Fatma, deine Mutter ist schön, aber du bist hässlich.) Das arme Tier versuchte dann umso mehr, seine Schönheit zu beweisen, indem es stolz seine Schwanz- und Flügelfedern ausbreitete, fast wie ein Pfau.


Unser Haus und unser Viertel waren sehr sicher. Wenn wir das Haus verließen, schlossen wir die Türen oft nicht ab. Manchmal wurde einfach eine Schnur mehrmals um die Türklinke gewickelt – ein Zeichen dafür, dass die Hausbewohner nicht zu Hause waren.

In den Straßen tauchte gelegentlich ein Mann auf, den wir Kinder „Madırlı Mehmet“ nannten. Er trug einen Sack auf dem Rücken und einen Stock in der Hand. Wer er wirklich war, wusste ich nicht, doch er tat niemandem etwas zuleide. Trotzdem hatten wir Kinder große Angst vor ihm. Er sprach nie ein Wort. Meine Mutter gab ihm manchmal Kleidung oder ein Stück Brot.


Damals zogen auch Bärenführer durch die Straßen. Ich erinnere mich noch gut an das traurige Bild: Der Bär hatte einen Ring durch die Nase, und wenn sein Führer fragte „Wie tanzen die Frauen im Hamam?“, musste er sich auf die Hinterbeine stellen und sich unbeholfen bewegen. Ich hatte Mitleid mit dem armen Tier und konnte es kaum ertragen, zuzusehen.


Samstags wurde in Demirci der große Markt abgehalten. Deshalb wurde der Samstag auch einfach „Demirci-Pazar“ genannt. Interessanterweise hatten die Wochentage in Demirci eigene Namen: Donnerstag wurde „Cumyaşamı“ genannt, und der Sonntag hieß „Denek“. Wahrscheinlich erhielt der Sonntag diesen Namen, weil Hochzeiten üblicherweise an diesem Tag stattfanden. Zum Samstagsmarkt gingen die Frauen nicht – der Einkauf war Männersache. Damals kannten wir Plastiktüten noch nicht. Mein Vater nahm den Bağbozan-Korb von zu Hause mit, füllte ihn mit seinen Einkäufen und brachte ihn so nach Hause. An einer Ecke des Marktplatzes befand sich der Schreibwarenladen von Hasan Akdemir. Ich glaube, er verkaufte auch Uhren. Unsere Schulsachen wurden meistens dort gekauft. Direkt gegenüber lag das Şehir Sineması, das Stadt-Kino. An manchen Tagen oder Abenden, wenn ein guter Film lief, gingen wir hin.


Wenn ich abends mit meinem Vater ins Kino ging, saßen wir in der Loge. Vorher riefen wir Asuman an. Falls wir beschlossen, unsere Puppen mitzunehmen, kleideten wir sie vorher an und nahmen sie mit ins Kino. Telefonieren war damals nicht so einfach wie heute – es gab keine Tasten zum Drücken. Zuerst musste man den Hörer abheben und den Drehmechanismus des Kurbeltelefons betätigen. Dann sagte man der Dame im Postamt: „Kannst du mich mit 22 verbinden?“ und wurde erst danach verbunden. Die Telefonnummer meiner Tante war 22, unsere eigene war 108.


Tagsüber setzten wir uns nicht in die Loge. Die Filme waren damals, genau wie Fotos, in Schwarz-Weiß. Ich erinnere mich noch daran, dass ich zum ersten Mal einige Szenen des Films „Bahçevan“ von Zeki Müren in Farbe gesehen habe – das war eine große Überraschung für mich. Manchmal gingen wir auch zum Ses Sineması auf der Straße Richtung Çereşe Meydanı. Ganz in der Nähe dieses Kinos befand sich ein Hamam. Obwohl wir nicht regelmäßig ins Hamam gingen, erinnere ich mich vage daran, dass ich einmal dort war.


In Demirci knüpften viele Frauen Teppiche – es war eine weit verbreitete Tradition. Damals war Demirci berühmt für seine handgewebten Teppiche. Heute sind an ihre Stelle industriell gefertigte Teppiche aus den Fabriken getreten. Unter unseren Nachbarinnen gab es viele Frauen, die Teppiche knüpften: Şerife Yenge und Ayşe Yenge von den Hay-Huylar, unsere gegenüber wohnende Nachbarin Fethiye Teyze sowie Nazire Teyze und Zehra Teyze. Sie gehörten zu den fleißigen Frauen, die diese Tradition lebendig hielten.

Erst viel später, als ich an Kongressen teilnahm, hörte ich eine in Demirci oft gebrauchte Redewendung, die besonders für Frauen galt: „Entweder du lernst oder du knüpfst.“ Diese Aussage reduzierte die Zukunftsperspektiven von Frauen auf zwei Möglichkeiten – Bildung oder Teppichknüpferei. Offenbar gehörten wir zu der Gruppe, die den Weg des Lernens eingeschlagen hatte.


Als Kinder verbrachten wir die meiste Zeit draußen auf der Straße mit Spielen. Unsere Lieblingsspiele waren Saklambaç (Verstecken), Dokuz Kiremit (Neun Ziegel), Körebe (Blinde Kuh), Seksek (Himmel und Hölle) und Aç Kapıyı Bezirgân Başı (eine Art Fangspiel). Die Mädchen spielten manchmal auch Evcilik (Mutter-Vater-Kind). Wir hatten nicht viele Spielsachen. Die Jungen besaßen meist kleine Drahtautos, die sie selbst oder ihre Väter gebastelt hatten. Die Puppen der Mädchen wurden von ihren Müttern genäht. Ihre Haare bestanden aus Wolle, die es zu Hause gab – meist in Schwarz oder Braun. Wahrscheinlich lag das daran, dass wir in Demirci kaum blonde Menschen kannten.


Mein Vater brachte uns von jeder Geschäftsreise nach Izmir oder Manisa ein kleines Geschenk mit. Einmal brachte er mir eine Taş Bebek – eine „Steinpuppe“. Doch eigentlich war es nur ein Porzellankopf ohne Körper. Meine Mutter nähte ihr einen weichen Stoffkörper und wunderschöne Kleider. Da ich damals noch nicht wusste, was Porzellan war, nannte ich sie einfach Steinpuppe. Wenn ich mit meiner Taş Bebek spielte, fühlte ich mich wie eine Prinzessin aus den Geschichten und Märchen, die ich kannte. Auf vielen meiner Kinderfotos halte ich sie in meinen Armen – sie war meine wertvollste Begleiterin.

Jahre später machte meine Schwester Handan mir eine riesige Freude, als sie mir zu meinem Geburtstag eine Taş Bebek aus Zypern schenkte. Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich ich war – als wäre ich für einen Moment in meine wunderschöne Kindheit zurückgekehrt.

Ich mit meiner Steinpuppe
Ich mit meiner Steinpuppe

Später bekam ich noch eine weitere Puppe. Sie war recht klein und aus einem materialähnlichen Kunststoff gefertigt, den man damals als Mika bezeichnete. Wir nannten sie „Harika Bebek“ – „Wunderpuppe“, weil ihre Hände und Füße beweglich waren. Für die Spielzeuge jener Zeit war das eine echte Sensation! Wenn ich heutigen Kindern ihre Besonderheiten erzähle, würden sie mich vermutlich auslachen. Unsere Puppen waren so schlicht und unschuldig wie unsere Kindheit. Heute sehe ich die perfekt geschminkten, fast wie Models aussehenden Puppen und bin erstaunt – und ein wenig traurig.


Das Evcilik (Mutter-Vater-Kind-Spiel), das ich mit meiner Cousine Asuman spielte, hatte für mich immer eine besondere Bedeutung. Asuman übernahm dabei die Rolle einer Trainerin und leitete uns durch das Spiel. Ich wurde meistens zum „Vater des Hauses“, zum „Fahrer“ oder zum „Lehrer“. Vermutlich haben mich das Fahren und Unterrichten schon damals geprägt. Asuman hatte eine unglaubliche Fantasie – ihr künstlerisches Talent zeigte sich schon in unserer Kindheit. Einmal besuchten wir mit unseren Müttern eine Ausstellung der Abendschule für Mädchenkunst hinter der Ziya-Gökalp-Grundschule. Wahrscheinlich hatte Asuman sich davon inspirieren lassen, denn kurz darauf schlug sie begeistert vor: „Lasst uns Kleider nähen, eine Ausstellung vorbereiten und die Kinder einladen!“

Von diesem Moment an waren wir in heller Aufregung. Wir nähten Kleider für unsere Puppen, fertigten Einladungen an und verteilten sie an unsere Freunde. Unsere größte Unterstützerin war, wie immer, meine Mutter. Sie half uns nicht nur, sondern sang währenddessen auch fröhlich ihre Lieder. Diesmal war eines davon ein bekanntes Hochzeitslied: „Sepetçi oğlu sepetini satamamış, Karısına beşibirlik alamamış“ (Der Sohn des Korbmachers konnte seinen Korb nicht verkaufen, also konnte er seiner Frau kein Goldstück kaufen.) Aus den Worten des Liedes schlossen wir, dass sie gerne half und mit uns zufrieden war. Auf ihren Vorschlag hin bereiteten wir den Hauseingang auf der Hangseite als Ausstellungsraum vor. Zuerst fegten wir alles gründlich sauber. Dann befestigten wir die selbstgenähten Kleider mit Nadeln an gespannten Schnüren. Alles, was wir in der Ausstellung der Abendschule gesehen hatten, sollte auch in unserer Ausstellung vertreten sein. Aus den Nüssen und Keksen, die uns meine Mutter gab, stellten wir kleine Snacks für die Besucher zusammen. Wir taten so, als würde sogar der Landrat oder der Bürgermeister von Demirci zur Eröffnung erscheinen – so ernst nahmen wir es.

Alle Ideen kamen von Asuman, wir setzten sie nur um.


Unsere Kindheitsträume und unser Glück sahen nicht so aus wie die Bilder, die man heute auf Bildschirmen sieht. Unsere Wünsche drehten sich nicht darum, Dinge zu besitzen, die wir in Werbungen oder auf Bildschirmen sahen. Wir waren keine Kinder, die durch elektronische Geräte überreizt und erschöpft wurden. Und ehrlich gesagt, bin ich froh, dass wir so aufgewachsen sind. Wir haben gelernt, mit wenig zufrieden zu sein und dankbar zu bleiben.


Meine Familie - Meine Liebsten


Der größte Reichtum eines Menschen ist, meiner Meinung nach, weder das Geld auf seinem Bankkonto noch das, was er unter seinem Kopfkissen oder in Form von Häusern und Grundstücken besitzt. Der wahre Reichtum und das größte Glück bestehen darin, in einem guten familiären Umfeld aufzuwachsen. Dieses Glück durfte ich in meiner Kindheit erleben – doch mit meinem kindlichen Verstand konnte ich seine Bedeutung damals noch nicht erfassen. Erst durch die Lektionen, die das Leben mir lehrte, durch Bücher, die ich las, Filme, die ich sah, und durch die Geschichten von Kindern, die in unglücklichen Familien aufwuchsen, wurde mir die wahre Bedeutung eines liebevollen Elternhauses bewusst.


Meine Großmutter, meine Tante Nermin, meine Mutter und wir vier Geschwister.
Meine Großmutter, meine Tante Nermin, meine Mutter und wir vier Geschwister.

Ich erkannte, dass hinter vielen Schwierigkeiten des Lebens eine unglückliche Kindheit steht und dass unschuldige Kinder oft die Leidtragenden sind. Einmal erzählte mir eine Freundin: „Weißt du, meine Mutter hat uns nie in den Arm genommen. Sie hat uns nie gesagt, dass sie uns liebt.“ Als ich das hörte, spürte ich, wie groß diese Lücke in ihrem Leben war, und empfand tiefes Mitgefühl für sie. Ich hingegen hatte das Glück, eine glückliche Kindheit zu erleben. Dafür werde ich meiner Familie immer dankbar sein.


Die ersten Jahre meiner Kindheit verbrachte ich nicht nur mit meinen Eltern, sondern auch mit meinem Großvater, meiner Tante Gönül und meiner Tante Hatice. Doch das Leben veränderte sich: Mein Großvater verstarb, meine Tante Gönül heiratete, und meine Tante Hatice zog zu meinen Großeltern. Damit wurden wir, wie man es heute nennt, eine „Kleinfamilie“. Allerdings sollte man sich nicht täuschen, wenn ich von meiner „Großmutter“ spreche. In Wahrheit war sie meine liebevolle, kluge und selbstlose Großtante Fatma Ersin. Die Eltern meines Vaters waren früh verstorben – ich erinnere mich kaum an sie. Man erzählte mir, dass ich eines Tages unter Tränen fragte: „Warum habe ich keine Oma und keinen Opa?“ Daraufhin fand meine Tante Fatma eine einfache, aber herzerwärmende Lösung: „Ab heute sind wir deine Großeltern.“ Von diesem Moment an betrachteten meine Geschwister und ich sie als unsere wahren Familienältesten. Sie hatten meinen Vater großgezogen, ihm Elternliebe geschenkt, und meine Mutter behandelte ihre Schwägerinnen wie ihre eigenen Geschwister – mit Liebe und Respekt.


Meine Großmutter, meine Mutter und meine Tante Hatice
Meine Großmutter, meine Mutter und meine Tante Hatice

Mein lieber Vater, Muammer Gümrükçü. Da er seine Eltern früh verloren hatte, verbrachte er eine schwierige Kindheit und Jugend. In dieser Zeit waren meine Tante Hatice und er aufeinander angewiesen, und die größte Unterstützung erhielten sie von meiner Großmutter und meinem Großvater. Mit deren Hilfe und durch seinen eigenen Fleiß überwand mein Vater all diese Herausforderungen. Mein Großvater und mein Vater verstanden sich in fast allen Angelegenheiten ausgezeichnet – bis auf eine Ausnahme: die Wahlen. Sie sympathisierten mit unterschiedlichen Parteien, und wenn es um politische Entscheidungen ging, waren Diskussionen unausweichlich. Einmal, während der Bürgermeisterwahlen, verlor der Kandidat, den mein Vater unterstützt hatte. Zufällig übernachtete ich an diesem Abend bei meiner Großmutter. Mitten in der Nacht klopfte es plötzlich an die Tür. Mein Vater stand davor und sagte: „Komm, mach dich fertig, wir gehen nach Hause.“ Meine Tante versuchte ihn noch zu beschwichtigen: „Ach, Bruder, lass das doch.“ Doch für meinen Vater fühlte es sich an, als hätte nicht der Kandidat, sondern er selbst die Wahl verloren. So zog ich – von seinem Kummer angesteckt – mit ihm nach Hause. Glücklicherweise führten solche politischen Differenzen nie zu ernsthaften Streitigkeiten.

Mein Vater und meine Tante Hatice
Mein Vater und meine Tante Hatice

Mein Vater hatte die İzmir İnönü Lisesi besucht, während er bei seiner Schwester und seinem Schwager lebte. Manchmal erzählte er uns davon, wie er aus Geldmangel den Schulweg zu Fuß zurücklegte, ohne jemandem davon zu erzählen. Sein Stolz ließ es nicht zu, sich darüber zu beklagen. Während er in Izmir auf der İnönü Lisesi war, nahm mein Vater am 19. Mai, dem Jugend- und Sportfeiertag, an den Feierlichkeiten teil. Doch da er nicht genug Geld hatte, konnte er sich keine weißen Stoffschuhe leisten. Also bemalte er seine Füße mit einer Farbe namens Üstübeç und trat so bei der Vorführung auf. Vielleicht waren es genau diese Schwierigkeiten, die ihn im Leben so stark machten. Damals absolvierten Abiturienten ihren Militärdienst als Reserveoffiziere. Mein Vater leistete daher seinen Dienst ebenfalls als Reserveoffizier ab. Wenn ich die Eigenschaften meines Vaters aufzähle, darf ich eines nicht vergessen: seine romantische Ader. Er war ein belesener Mann, ein Dichter, elegant und ein wahrer Gentleman. Wie es in einem Lied von Sezen Aksu heißt, war er für meine Mutter „der feinsinnige Herr ihres Herzens, der wertvollste Mensch ihres Lebens, ihr Weggefährte auf langen Reisen, ihr Polarstern“.

Wehrdienst
Wehrdienst

Mein Vater schrieb wunderschöne Gedichte und konnte sie ebenso eindrucksvoll vortragen. Mit meisterhafter Kunstfertigkeit verwob er seine Freude und seine Traurigkeit in poetische Zeilen. Sein dunkelrotes Notizbuch, gefüllt mit seinen handgeschriebenen Gedichten, hatte in unserem Haus einen Ehrenplatz. Auch die Briefe, die er meiner Mutter schrieb, verdienen eine besondere Erwähnung. Als meine Mutter einmal zu uns nach Amerika kam, bewahrten wir einen Brief auf, in dem mein Vater seine Sehnsucht nach ihr ausdrückte, sowie sein Gedicht „Yuvamın Dişi Kuşuna“ („An den weiblichen Vogel meines Heims“).


Eines der wertvollsten Geschenke, die ich je erhalten habe, ist das Gedicht, das mein Vater zu meiner Geburt verfasste:


"Eine göttliche Fügung heilte die Wunde in meinem Herzen, 

In der Nacht des 8. Februar kam İlham auf die Welt. 

Doch nicht sie allein wurde geboren, es war eine erhoffte Hilfe, 

Mein düsteres Schicksal wurde erhellt, die Dunkelheit durchbrach İlham."


Ich hoffe sehr, dass ich das Schicksal meines Vaters tatsächlich erhellen konnte. Auch später hörte er nicht auf zu schreiben. Das Gedicht, das er für unsere Tochter Günce verfasste, zählt zu den wertvollsten Erinnerungen, die er uns hinterlassen hat.


Unser Zuhause war nicht nur mit seinen Büchern gefüllt, sondern auch mit Dingen, die man damals in kaum einem anderen Haushalt fand – wie die weiße Venus-Statue in unserer Vitrine im Wohnzimmer. Er hatte sie einst in Izmir gekauft und erzählte uns immer wieder ihre Geschichte. An langen Winterabenden inszenierte er für uns Hacivat & Karagöz-Schattenpuppenspiele und machte damit unser Zuhause zur Bühne. Mein Vater war ein Mann, der viel Wert auf sein Äußeres legte. Meine Mutter stärkete akribisch seine Hemdkragen und bügelte seine Hemden mit größter Sorgfalt. Er sprach ungern über andere Menschen oder urteilte vorschnell. Wenn meine Mutter jemanden neu kennengelernt hatte und sofort ihre Meinung äußern wollte, pflegte er zu sagen: „Man sollte die Spalte für Bemerkungen offenlassen.“ Damals verstand ich diese Worte nicht, aber später erkannte ich ihre Weisheit: Man sollte nicht vorschnell über Menschen urteilen, sondern ihnen Zeit geben, sich zu entfalten. Ich versuche, diesen Rat so gut es geht in meinem eigenen Leben zu befolgen.


Ein weiteres besonderes Erlebnis mit meinem Vater waren unsere Besuche auf der Izmir-Messe. Jedes Jahr wurde die Messe zwischen dem 20. August und dem 20. September in Izmir abgehalten, und viele Menschen aus Demirci reisten dorthin. Mein Vater nahm uns mit, sobald es seine Arbeit erlaubte. Die kurvenreichen Straßen auf dem Weg machten uns oft reisekrank, aber die Aussicht, auf der Messe Fahrgeschäfte zu besuchen, ließ uns alles vergessen. Vor der Reise reservierten wir immer ein Zimmer im Kayseri-Hotel. Aus irgendeinem Grund hatten die Leute aus Demirci eine besondere Vorliebe für dieses Hotel.

Wir betraten die Messe stets in der kühleren Abendluft, besuchten die Pavillons der Gastländer und sammelten Broschüren. Nach den Rundgängen kehrten wir ins Tariş-Pavillon ein, wo mein Vater sein geliebtes Koruk Suyu – einen Saft aus unreifen Trauben – trank.


Für uns Kinder war der beste Teil des Tages der Vergnügungspark. Wir fuhren so lange Autodrom, bis wir völlig erschöpft waren. Danach aßen wir gemeinsam in einem Restaurant, und obwohl uns vom vielen Laufen die Füße schmerzten, kehrten wir glücklich ins Hotel zurück. Am nächsten Morgen traten wir, erfüllt von schönen Erinnerungen, unsere Rückreise nach Demirci an.

Essenspause während unseres Besuchs auf der Izmir-Messe.
Essenspause während unseres Besuchs auf der Izmir-Messe.

Mein Vater verbrachte einige Abende mit seinen Freunden im Stadtklub. Seine engsten Weggefährten waren Naci Öktem (Baytar Naci – der Tierarzt), Nuri Karsoy (Ziraatçi Nuri – der Agraringenieur), Ertuğrul Okay (Galizlerin Ertuğrul), Cahit Bilaçeroğlu und Ahmet Cezayirlioğlu. Besonders der frühe Tod von Ahmet Amca traf uns alle schwer. Wir hatten großes Mitgefühl für Şükran Teyze und ihre Kinder Haluk, Haldun und Hayati. Mit Naci Amca und Nuri Amca unternahmen wir oft Abendspaziergänge oder Wochenend-Picknicks. Für unsere Picknicks fuhren wir meist zur Nafıa-Gegend oder zur Mühle von Hasan Ağa.

Naci Amca spielte Kanun, während Nuri Amca dazu sang. Heute sind sie alle nicht mehr unter uns. Doch wer weiß – vielleicht haben sie sich in jener unbekannten, geheimnisvollen Welt wiedergefunden und singen dort gemeinsam weiter, so wie damals.


Meine Mutter… Ach, meine wunderbare Mutter – die Frau mit dem großen Herzen, die uns vier Töchtern Liebe, Nachsicht, Geduld und den Wert der Familie beigebracht hat.

Sie wurde als Tochter eines Soldaten geboren, als mittlere von drei Schwestern, in den Militärwohnungen von İzmir Kilizman. Ihre ersten Kinderjahre verbrachte sie in İzmir und Manisa. Sie besuchte die Gazi-Grundschule in Manisa und anschließend die Mittelschule der heutigen İsmet İnönü Mädchenberufsschule. Als ihre Mutter mit nur 45 Jahren verstarb und mein Großvater erneut heiratete, zog die Familie nach Demirci. Dort lebte sie mit ihren Schwestern, Muazzez Teyze und Gönül Teyze, weiter zusammen.

Meine Gr0mutter, meine Mutter und meine Tanten
Meine Gr0mutter, meine Mutter und meine Tanten

Meine Mutter – die liebevolle Mutter von uns vier Schwestern. In Demirci kannte man sie als Muhattep Hanım. Als Kind mochte sie ihren Namen nie. Damals gab es, was man heute „Peer-Bullying“ nennt – ihre Freunde machten sich über ihren Namen lustig und nannten sie „Müeddep, mürekkep, merkep“ (Müeddep – sittsam, Mürekkep – Tinte, Merkep – Esel).

Eines Tages beschloss sie aus eigener Überzeugung, ihren Namen zu ändern. Sie nannte sich fortan Güner. Warum sie gerade diesen Namen wählte, weiß ich nicht – sie sprach nie darüber. Wahrscheinlich bewahrte sie ihn tief in ihrer Kindheitswelt verborgen. Später, vielleicht durch das Erwachsenwerden und das zunehmende Selbstvertrauen, kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Namen Müeddeb zurück. Mein Vater erklärte uns oft: „Müeddep bedeutet sittsam und anständig.“ Im Jahr 1969 erschütterte ein Erdbeben Demirci. Es war eine sehr schwierige Zeit – wir lebten in Zelten. Eines Tages brachte der Postbote einen Brief, adressiert an Güner Gümrükçü. Es war ein Genesungsbrief von Refik Dayı, dem Cousin meiner Mutter, der als Orthopädie-Professor an der Cerrahpaşa-Universität tätig war. Durch diesen Brief erfuhren wir, dass meine Mutter noch einen weiteren Namen hatte. Jahre später erlebten wir eine weitere Überraschung: Wir erfuhren, dass sie auch Nesibe hieß. Leider fragten wir nie nach, von welchem Familienmitglied dieser Name stammte – vermutlich war es der Name der Mutter meines Großvaters.


Doch das kurioseste Ereignis rund um ihren Namen ereignete sich nach ihrem Tod im Jahr 2011. Als wir das Erbschaftsdokument beantragten, stellten wir fest, dass ihr offizieller Name eigentlich Nesibe Müveddeb war. Wie konnte meine Mutter 77 Jahre lang als Nesibe Müeddep leben, heiraten, Bankgeschäfte erledigen, einen Reisepass und Grundbucheinträge haben – und niemandem war je aufgefallen, dass ein Buchstabe abwich? Man könnte denken, was macht schon ein einziges V aus? Doch wegen dieses kleinen Details mussten wir vier Schwestern all unsere Ausweisdokumente neu ausstellen lassen.


Die letzte Namensverwirrung erlebten wir, als wir das Haus in Gencelli offiziell auf unseren Namen überschrieben. Trotz all der Verwirrung entschieden wir uns, auf ihrem Grabstein ihren Namen so eintragen zu lassen, wie wir ihn kannten: Nesibe Müeddeb Gümrükçü.

Ich hoffe, dass sie auf ihrer stillen Reise in die unbekannte Welt dort oben keine Probleme mit ihrem Namen hat.


Meine Mutter strickte oder nähte unsere Kleidung selbst. Besonders talentiert war sie jedoch in einer ganz anderen Disziplin – den Schleifenbändern, die sie in unser Haar steckte. Diese Bänder wurden gestärkt, sorgfältig gebügelt und dann kunstvoll zu Schleifen gebunden, bevor sie in unser Haar kamen. Wenn meine Mutter uns so sah, betrachtete sie uns mit der Zufriedenheit eines Künstlers, der sein Meisterwerk bewundert. An offiziellen Feiertagen kamen sogar die Nachbarskinder zu ihr, damit sie ihnen ebenfalls die Schleifen banden. Sie tat es mit Freude – es war für sie ein kleines Glück.


Die Liebesgeschichte meiner Eltern war ebenfalls außergewöhnlich. Durch die zweite Ehe meines Großvaters mit Refika Hanım kannten sich meine Mutter und mein Vater bereits. Refika Hanım war eine enge Verwandte meines Vaters – sie waren Kinder von Geschwistern. Mein Vater war acht Jahre älter als meine Mutter. Als Kinder spielte meine Mutter viel lieber mit meinem Onkel Necdet, da sie im gleichen Alter waren. Sie waren fast gemeinsam aufgewachsen.


Doch irgendwann wurde mein Vater für heiratsfähig gehalten, und seine Schwestern begannen, nach einer passenden Frau für ihn zu suchen. („Nach einer Braut suchen“ – dieses Konzept hat mich immer erstaunt. Es klingt, als würde man etwas aus einem Schaufenster oder vom Markt auswählen…) Während die möglichen Kandidatinnen aufgezählt wurden, fiel irgendwann auch der Name meiner Mutter. Mein Vater sagte ohne Zögern: „Ich möchte Müeddeb.“ Damals nannte meine Mutter ihn noch respektvoll „Muammer Abi“ – Bruder Muammer. Eine richtige Filmszene! In dieser Zeit war meine Mutter gerade in Uşak, wo sie ihrer älteren Schwester Muazzez Teyze bei der Geburt ihres Kindes half.


Damals lief das nicht so wie heute – es gab kein „per DM anschreiben“, keine Nachrichten über Facebook oder Instagram, keine Videoanrufe. Mein Onkel Necdet bekam die Aufgabe, die Botschaft zu überbringen. Er reiste nach Uşak, trat vor meine Mutter und sagte: „Sie verloben dich!“ Meine Mutter erschrak. Denn es gab einen anderen Mann, der um sie warb, den sie aber auf keinen Fall wollte. Voller Angst fragte sie: „Mit wem werde ich verlobt?“ Als Necdet Amca antwortete: „Mit Muammer Dayı.“ (Onkel Muammer), atmete sie erleichtert auf und sagte: „Tausend Dank, mein Gott!“ Nachdem sie sich von dem ersten Schock erholt hatte, konnte sie sich eine weitere Frage nicht verkneifen: „Hat Muammer Abi wirklich mich gewählt?“ Zum Glück haben sie geheiratet – und uns dieses wundervolle Familienleben geschenkt.

Meine Mutter und mein Vater
Meine Mutter und mein Vater

Wie ich bereits sagte, summte meine Mutter beim Arbeiten immer ein Lied vor sich hin. Ihre Playlist war meist festgelegt. Manchmal sang sie „Aman doktor, canım gülüm doktor, derdime bir çare“, vermutlich, weil ihre Mutter lange Zeit im Krankenhaus behandelt wurde. Immer wenn ich Candan Erçetins Version dieses Liedes höre, steigen mir die Tränen in die Augen. Wenn sie fröhlich war, sang sie entweder „Düriyemin güğümleri kalaylı“ oder „Yeşilim, yeşilim“. Außerdem spielte sie das Spiel „Çaktım, çaktım, yanmadı“ mit großer Begeisterung. In Erinnerung an meine Mutter tanzten wir dieses Spiel bei der Hochzeitsfeier unseres Sohnes Bilge – meine Geschwister, unsere Cousins und Cousinen, alle gemeinsam. Wir taten es, als würde meine Mutter uns dabei zusehen. Ich hoffe, dass sie es irgendwie mitbekommen hat.


Leider hält das Leben manchmal unerwartet traurige Ereignisse für uns bereit. Meine Eltern verloren ihr erstes Kind, Kasım, als er gerade einmal neun Monate alt war. Er war nie krank gewesen. Eines Morgens, als meine Mutter ihn stillen wollte, fand sie ihn leblos in seiner Wiege. Meine Mutter glaubte immer fest daran, dass er durch den bösen Blick (Nazar) gestorben war. Sie war tief überzeugt von der Kraft des Nazar und sprach oft darüber. Sie mussten den schlimmsten Schmerz erleben, den es für Eltern gibt – den Verlust eines Kindes. Nach dieser schweren Zeit kam ich zur Welt. Vielleicht hatte meine Mutter durch ihren Kummer während der Schwangerschaft nicht genug Kraft, mich ausreichend zu versorgen – ich wurde als sehr schwaches Baby geboren. Am 8. Februar 1954 erblickte ich mit Hilfe der Hebamme Yaşar Ebe das Licht der Welt – zu Hause, nicht im Krankenhaus. Mein zweiter Vorname, Yaşar (was „er wird leben“ bedeutet), wurde mir vielleicht aus zwei Gründen gegeben: entweder zu Ehren der Hebamme oder in der Hoffnung, dass ich überleben würde.


Mein Vater wollte ursprünglich den Namen seines verstorbenen Vaters an mich weitergeben. Doch später entschied er sich dagegen und gab uns Kindern keine Namen von Familienältesten. Da er ein leidenschaftlicher Leser war, fand er meinen Namen in einem Roman – und so wurde ich İlham (Inspiration) genannt. Meine Mutter hatte den Schmerz über den Verlust ihres ersten Kindes noch nicht ganz überwunden, als sie mit mir schwanger wurde. Vielleicht deshalb war ich als Neugeborenes besonders zart und schwach. Besonders meine Knochen und Beine waren äußerst dünn. Meine Tante Hatice tat ihr Bestes, um mich zu stärken, doch meine Knochen blieben fragil – bis heute. Wenn meine Beine manchmal stark schmerzen, mache ich mir selbst einen Scherz daraus und sage: „Ich bin eine fehlerhafte Produktion.“ Um meine schwachen Beine zu stützen, wickelte Hatice Halam feine Holzstäbchen, die mein Vater mitbrachte, in Watte und legte sie an meine Beine, bevor sie mich einwickelte. Damals wurden Babys noch in Kundak – eine Art Wickeltuch – eingewickelt. Die Arme und Beine wurden eng in ein quadratisches Baumwolltuch eingeschlagen.


Meine Grundschuljahre verbrachte ich an der Ziya-Gökalp-Grundschule. Damals erschien mir unsere Schule in meinen Kinderaugen als ein riesiges Gebäude. Wir hatten sogar einen überdachten Pausenhof – eine Besonderheit, die ich sehr schätzte. Unsere Schule lag oben auf einem Hügel. In jenen Zeiten, als noch niemand von „globaler Erwärmung“ sprach, gab es in Demirci im Winter reichlich Schnee. Wie ich schon sagte, war ich ein recht lebhaftes Kind. Nach der Schule nutzte ich meine große, kofferähnliche grüne Schultasche als Schlitten und rutschte damit den Hügel hinunter nach Hause. Natürlich hatte das seinen Preis: Bereits zum Ende des ersten Schulhalbjahres in der ersten Klasse war meine Tasche völlig abgenutzt. Mein Vater war während meiner Grundschulzeit regelrecht verzweifelt, weil er ständig neue Schultaschen und Schuhe für mich kaufen musste.


Vier Jahre nach mir kam meine Schwester Ümran zur Welt. Da ich damals noch sehr jung war, erinnere ich mich kaum an ihre Geburt. Zu jener Zeit erzählte man Kindern, dass Babys von Störchen gebracht wurden. Ich weiß nur noch vage, dass mein Vater mir eines Tages ein Fahrrad zeigte und sagte: „Deine Schwester ist mit diesem Fahrrad gekommen. Es gehört jetzt dir.“ Ich war überglücklich – nicht, weil die Störche meine Schwester nicht gebracht hatten, sondern weil ich ein wunderschönes Fahrrad bekam! 


Einmal kam eine Nachbarin zu meiner Mutter, um ihr zur Geburt zu gratulieren. Sie wandte sich an mich und sagte: „Jetzt ist dein Schuh auf das Dach geworfen worden!“ Da ich noch nicht wusste, dass es sich um eine Redewendung handelte, rannte ich auf den Balkon und schaute hinüber zum Dach unserer Nachbarn, den Huy-Huylar. Doch meine Schuhe waren nirgends zu sehen. Als ich sie wohlbehalten zu Hause fand, war meine Erleichterung riesig!


Ümran war ein ruhiges, ausgeglichenes Kind. Nur einmal, während eines gemeinsamen Winterspiels, passierte ihr ein kleines Missgeschick: Sie fiel von der Couch direkt auf das glühende Kohlenbecken. Zum Glück ging alles noch glimpflich aus – sie hatte nur eine leichte Verbrennung. Es hätte viel schlimmer kommen können. Ümran bedeutet „eine Person mit allen lobenswerten Eigenschaften“. Kaum ein Name hätte besser zu ihr gepasst – oder wie es die Alten sagen würden: „Sie war genau das, was ihr Name versprach.“  Obwohl wir vier Jahre Altersunterschied hatten, stritten wir nie. Wenn ich mit meiner Mutter unterwegs war und Süßigkeiten bekam, nahm ich immer eine für meine Schwester mit. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, sie allein zu essen.


Mit İlham und Ümran begann die Zahl der Kinder in unserer Familie zu wachsen. Meine Mutter war mit ihrem dritten Kind schwanger, und diesmal wurde sehnsüchtig ein Junge erwartet. Mein Vater sprach nie darüber, aber meine Mutter hatte sich immer einen Sohn gewünscht. Vielleicht lag es daran, dass sie ihr erstes Kind, Kasım, als Baby verloren hatte. Jedes Mal, wenn ein Autokorso für eine Beschneidungsfeier hupend durch unsere Straße fuhr, schloss meine Mutter alle Fenster und zog die Vorhänge zu. Natürlich konnte sie den Schmerz in ihrem Herzen nicht einfach mit einem Vorhang verdecken – doch es war ihre Art, dem zu entfliehen.


Nach zwei Mädchen sollte das dritte Kind nun unbedingt ein Junge werden. Damals gab es keine modernen Ultraschallgeräte, die das Geschlecht des Babys schon vor der Geburt erkennen ließen. Keine „Gender-Reveal-Partys“ oder farbige Ballons – das Geschlecht wurde erst bei der Geburt bekannt. Meine Mutter hatte sich fest darauf eingestellt, dass es ein Junge wird. Der Name stand bereits fest: Hakan – passend zu unseren Namen mit einem klanglichen Gleichklang.


Als ihre Wehen begannen, wurden wir zu unserer Tante Gönül gebracht. Wir verbrachten dort den Tag, doch in meinem kleinen Herzen machte sich eine unruhige Aufregung breit – vielleicht sogar eine Spur Angst. „Was, wenn es ein Junge wird und meine Mutter ihn mehr liebt als uns?“ Vielleicht war es kindliche Eifersucht, vielleicht einfach nur eine Sorge, nicht mehr an erster Stelle zu stehen. Am späten Nachmittag erfuhren wir die Nachricht: Unsere kleine Schwester war geboren! Ich war überglücklich. Es war nicht Hakan, sondern Handan, die zu uns kam.


Der Name Handan bedeutet „die Lachende, die Freudige“. Und kein Name hätte meiner Schwester besser stehen können. Handan war ein fröhliches Baby mit schwarzen, lockigen Haaren und einem stets strahlenden Gesicht – und so blieb sie auch ihr Leben lang. Als wir spielten, liebte sie besonders das kleine Reimspiel, das wir oft zusammen spielten:


„Gugucuk, wo bist du?“ 

„Hier bin ich.“ 

„Was machst du?“ 

„Ich esse.“ 

„Wer hat es dir gegeben?“ 

„Meine liebe Mama.“ 

„Wer hat es dir gegeben?“ 

„Mein lieber Papa.“ 

„Cik, cik, cik!“


Während ich die Verse aufsagte, klopfte ich ihr sanft auf die Wangen. Sie kicherte dabei jedes Mal vor Freude. Von uns allen war Handan diejenige, die am stärksten vom Demirci-Erdbeben betroffen war. Mein Vater, stets erfinderisch, baute mit einfachen Mitteln einen provisorischen Seismografen. Er band einen Stift an eine Schnur und erklärte ihr: „Schau, wenn die Erde bebt, würde der Stift auf dem Papier zittern und Linien zeichnen. Solange das nicht passiert, gibt es kein Erdbeben.“ So versuchte er, sie zu beruhigen. Doch als Handan eines Tages während ihres ersten Schuljahres im Unterricht saß und die Erde bebte, bekam sie große Angst. Beim panischen Verlassen des Klassenzimmers stolperte sie und entkam nur knapp einer schlimmeren Verletzung.


Während unserer Zeit im Zeltlager und später, als wir wegen der schweren Schäden an unserem Haus in eine Mietwohnung zogen, wachte sie oft nachts plötzlich schreiend auf. Diese Angst ließ sie nie ganz los. Noch heute spürt sie die gleiche Furcht, wenn ein Erdbeben passiert. Manche Ängste begleiten einen Menschen ein Leben lang – sie lassen sich nicht so leicht abschütteln.

Mein Vater, meine Mutter und wir vier Geschwister
Mein Vater, meine Mutter und wir vier Geschwister

Und hier kam Nummer vier: unsere kleine Schwester Nazan. Meine Mutter hielt ihre Schwangerschaft lange Zeit vor uns geheim. Warum, weiß ich nicht – vielleicht hatte sie innere Ängste oder Zweifel. Als die Geburt begann, wurden wir in den Weinberg meiner Tante Hatice geschickt. Sie selbst eilte nach Hause, um bei der Geburt zu helfen. Unsere bewährte Hebamme Yaşar Ebe und meine Tante unterstützten meine Mutter während der Entbindung.  Am späten Nachmittag erhielten wir den ersehnten Anruf: Das Baby war geboren! Doch in der Stimme meiner Großmutter schwang eine gewisse Zurückhaltung mit. „Eure Schwester ist da…“ Als ich hörte, dass es ein Mädchen war, war ich überglücklich. Juhu, noch eine kleine Schwester!  Zusammen mit Saime und Asuman liefen wir nach Hause. Meine Mutter lag im Wochenbett, während meine Tante Hatice die Kleine auf dem Arm hielt und sie meiner Mutter zum Stillen geben wollte. Doch meine Mutter war von der Enttäuschung überwältigt, dass sie wieder keinen Sohn bekommen hatte. Sie wollte das Baby nicht annehmen. „Tu das nicht, Schwester. Das ist eine Sünde“, flehte meine Tante sie an – doch sie ließ sich nicht überzeugen. Da nahm Saime die kleine Nazan in den Arm und rief: „Schau doch mal, was für ein wunderschönes Baby! Komm, still sie!“ Doch meine Mutter erwiderte nur: „Wenn du sie so sehr liebst, dann gehört sie dir.“ Heute würde man wohl von postpartaler Depression sprechen.


Zum Glück fand meine Mutter mit der Unterstützung meines Vaters und unserer Tanten schnell aus dieser Gefühlslage heraus. So wuchs unsere Nazan heran. Zwischen uns lagen zwölf Jahre Altersunterschied, und ich übernahm manchmal eine kleine Mutterrolle für sie, um meiner Mutter etwas Arbeit abzunehmen. Wenn meine Eltern am Abend Besuche bei anderen Beamtenfamilien in Demirci machten, blieb ich mit meinen Schwestern zu Hause. Dann wiegte ich Nazan sanft mit meinen Füßen in den Schlaf – und war insgeheim stolz auf mich, weil ich eine gute große Schwester war.


Als Nazan etwas über ein Jahr alt war, begann sie zu laufen und zu sprechen. Eines Tages, während wir in der Schule waren, hielt eine Nachbarstochter sie auf dem Arm, doch sie rutschte ihr aus den Händen und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Als mein Vater nach Hause kam, brachte er sie sofort zu Doktor Mehmet Akarsu, einem sehr angesehenen Arzt. Die Diagnose war besorgniserregend: Der Sturz hatte einen Schädelbruch verursacht. Sie musste umgehend im Demirci Staatskrankenhaus aufgenommen werden. Meine kleine Schwester blieb dort eine ganze Weile. 


Eines Tages besuchte ich sie im Krankenhaus. Das Bild, das sich mir bot, gehört zu den erschütterndsten Erinnerungen meines Lebens: Nazan lag da, mit winzigen Ärmchen, in denen Infusionsnadeln steckten, einem Kopf voller Verbände und einem Schlauch, der an ihrem Mund befestigt war. Sie atmete schwer. Ich war tieftraurig. Jede Nacht betete ich in  meinem Bett und flehte Gott an, meine Schwester am Leben zu lassen. Damals, wenn die Schulen schlossen, gingen wir Mädchen lange Röcke tragend und mit Kopftüchern zu einem Hoca (Koranschullehrer), um Gebete zu lernen. Ich war stolz darauf, diese Gebete sprechen zu können. Ich glaubte fest daran, dass Gebete und Ärzte meine Schwester retten würden. Zum Glück wurde mein Glaube nicht enttäuscht. Damals gab es noch keine Manifestationen, keine Chakra-Heilung, kein positives Denken – unsere einzige Zuflucht war das Gebet. Und Nazan wurde gesund. Wir waren wieder vereint – vier Schwestern, die zusammen spielten und aufwuchsen, ohne je Neid oder Eifersucht zu verspüren.


Heute, wenn ich zurückblicke, weiß ich, dass wir, vier berufstätige Frauen, die auf eigenen Beinen stehen, all das unseren Eltern und den Familienältesten verdanken, die uns großgezogen haben. Doch ich sehe auch, wie sich das Familienbild verändert hat. Heutzutage werden Kinder oft mit dem Gedanken großgezogen, dass es nur „Ich“ gibt, statt ein „Wir“. Diese Denkweise bringt nicht selbstbewusste, sondern egozentrische Generationen hervor. Hande Yeners Lied „Benden bir tane daha yok“ (Es gibt niemanden wie mich) scheint genau diese neue Haltung widerzuspiegeln:


"Ich halte alles fest, wann immer ich will, ich bin unantastbar. 

Ich bin einzigartig, ich allein genüge euch allen. 

Wenn nötig, kann ich grausam sein. 

Ich bin unvergleichlich, ich stelle die Regeln auf – in jedem Spiel, das ich betrete."


Macht diese Mentalität wirklich Sinn? Darüber lässt sich diskutieren.


Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen


Wenn man von Verwandtschaft spricht, denkt man meist an eine Verbindung, die durch Blutsverwandtschaft entsteht. Doch bei uns gab es nicht nur eine Verbindung durch Blut, sondern auch eine tiefe Herzensverbundenheit.


Zum Glück gehörten wir nie zu denen, die sagen: „Was ein Verwandter einem antun kann, würde selbst ein Skorpion nicht tun.“ Auch wenn wir uns mittlerweile auf verschiedene Städte und sogar verschiedene Länder verteilt haben, versuchen wir, uns so oft wie möglich persönlich zu treffen oder zumindest durch die modernen Kommunikationsmittel der heutigen Zeit in Kontakt zu bleiben.


In Demirci sahen wir unsere Tanten fast täglich. Meine Großmutter und meine Tante Hatice lebten im obersten Stockwerk des Ersin-Apartments auf dem Marktplatz der Stadt. Tante Hatice erlebte eine schwere Zeit in den ersten Jahren ihrer Ehe. Sie verlor ihren Mann, Tevfik Çakmakoğlu, an Tuberkulose. Tevfik Dayı hatte sich lange behandeln lassen, doch leider ohne Erfolg. Er war der Bruder von Memduh Çakmakoğlu. Außerdem hatten sie noch eine Schwester, Vesile Teyze. Tevfik Dayı war Mathematiklehrer, und mein Vater sprach immer voller Respekt von ihm. Über den verstorbenen Ehemann meiner Tante Hatice wurde in der Familie kaum gesprochen – wahrscheinlich, um sie nicht zu verletzen.

Man erzählte jedoch, dass er kurz vor seinem Tod beim Essen von Tahin Helva einen starken Hustenanfall bekommen hatte. Vielleicht aus diesem Grund wurde bei uns nie Helva aufgetischt, wenn meine Tante zu Besuch war. Nach dem Tod ihres Mannes lebte sie eine Zeit lang bei uns, später zog sie zu meiner Großmutter. 

Hatice Hala und ihr Mann Tevfik Tevfik Çakmakoğlu
Hatice Hala und ihr Mann Tevfik Tevfik Çakmakoğlu

Ich verdanke ihr sehr viel. Als Kind hatte ich oft Bauchschmerzen. Meine Mutter hatte eine besondere Methode dagegen – sehr zu meinem Leidwesen: Sie schnitt Kartoffeln in Scheiben, legte sie auf ein Tuch und band mir das Ganze um den Bauch. Manchmal vergaß ich das völlig und rannte hinaus, um mit meinen Freunden zu spielen. Wenn ich dann sprang und tobte, fielen die Kartoffelscheiben aus dem Wickel und kullerten zu Boden. Meine Freunde lachten, machten sich über mich lustig – und ich schämte mich furchtbar.


Eines Nachts, als ich bei meiner Tante übernachtete, bekam ich wieder starke Bauchschmerzen. Ich wartete geduldig auf den Morgen. Kaum dämmerte es, weckte ich sie. Tante Hatice sah mich an und sagte: „Das wird nicht mit Kartoffeln verschwinden. Wir gehen zum Arzt.“ Gleich gegenüber ihrer Wohnung befand sich die Praxis von Dr. M. Erol, den wir bereits kannten. Kaum angekommen, wurde die Diagnose gestellt: Mein Blinddarm war kurz davor zu platzen! Ich musste sofort operiert werden. Im Staatlichen Krankenhaus von Demirci wurde ich notfallmäßig operiert. Tante Hatice hatte mir damit bereits zum zweiten Mal das Leben gerettet – das erste Mal war, als sie mich aus dem Wasser zog, nachdem ich mit Asuman beim Spielen in einen Teich gefallen war. Ich werde ihr diese Rettungstat niemals vergessen. Sie war eine strenge, aber niemals unterdrückende Frau. Ihre Verdienste um mich kann ich nie genug würdigen.


Meine Großmutter und mein Großvater waren ruhige, friedvolle Menschen. Vage erinnere ich mich sogar an die Mutter meines Großvaters, Esma Nine. Sie war blind, aber nicht von Geburt an. Man erzählte, dass ihr einmal ein Stein ins Auge gespritzt war. Aus Angst traute sie sich nicht, es ihrer Familie zu sagen. Später infizierte sich die Wunde – und schließlich verlor sie ihr Augenlicht.


Der älteste Sohn meiner Großeltern war Necdet Amca (Da sie viel älter waren als wir, nannten wir sie Onkel und Tante). Er studierte Architektur und Ingenieurwissenschaften an der Istanbul Technischen Universität. Nur in den Semesterferien kehrte er nach Demirci zurück. Einmal brachte er uns ein Tonbandgerät mit. Es sah aus wie eine kleine Handtasche, die sich öffnen ließ. Im Inneren befanden sich zwei kleine runde Rollen – wenn sie sich drehten, erklangen Lieder. Damals kannten wir nur das Radio. Unsere größte Freude war es, nachts die Sendung „Arkası Yarın“ (Fortsetzung folgt) zu hören. Ein Tonbandgerät hatten wir noch nie gesehen. Fasziniert starrten wir es an, als hätten wir die achte Weltwunder vor uns.


Seine Schwester, Nedret Hala, hatte in jungen Jahren İsmail Enişte geheiratet und war nach Turgutlu gezogen. Wenn im Sommer die Schulen schlossen oder an Feiertagen, kam sie nach Demirci. Besonders im Sommer verbrachten wir viel Zeit in unserem Sommerhaus – wir nannten ihn liebevoll „Pembe Köşk“ (Die rosarote Villa). Das Sommerhaus meiner Großeltern war für uns wie das Paradies. Die Tage, die wir im Sommerhaus verbrachten, hatten ihren ganz besonderen Reiz. Manchmal übernachtete ich dort bei meinen Tanten. Wenn die Sommerferien begannen, kamen Nedret Halam und ihre Kinder, Ahmet und Nuri, ebenfalls dazu.  Da Ahmet uns altersmäßig näher stand, spielten Asuman, Ümran und ich oft mit ihm zusammen. 

Die rosarote Villa
Die rosarote Villa

Ahmet hatte eine besondere Gabe – genau wie Asuman konnte er Geschichten unglaublich lebendig erzählen. Meine Schwester Ümran und ich hörten ihnen immer mit offenem Mund und voller Bewunderung zu. Eine besonders lustige Erinnerung haben wir aus jener Zeit: Meine Großmutter und meine Tante bereiteten im Weinberg Vorräte für den Winter vor. Sie schnitten Äpfel in kleine Stücke, um sie zu trocknen – diese getrockneten Äpfel nannten wir „Kak“. Als die Arbeit erledigt war und mein Großvater am späten Nachmittag nach Hause kam, fragte er: „Was habt ihr heute gemacht?“ Daraufhin fasste Ahmet den Tag mit einem einzigen Satz zusammen: „Oma und Tante Hatice haben den ganzen Tag ‚Kaka‘ gemacht.“ Wir brachen in schallendes Gelächter aus. Doch Ahmet verstand nicht, was daran so lustig war – er dachte, wir würden ihn auslachen, und war beleidigt. Es war eine dieser Erinnerungen, die uns immer wieder zum Schmunzeln brachte, wenn wir daran dachten.


Ahmet, Asuman und ich – vermutlich an einem 23.-April-Kinderfest
Ahmet, Asuman und ich – vermutlich an einem 23.-April-Kinderfest

Wenn ich bei meinen Tanten zu Besuch war, hatte selbst die einfachste Mahlzeit einen besonderen Geschmack. Tee aus einem Glas zu trinken, auf dem „Hoş Geldiniz“ (Willkommen) stand, oder hausgemachte Marmelade mit einem großen Suppenlöffel zu essen – das war ein ganz eigenes Vergnügen. Saime war acht Jahre älter als ich. Sie war eine wunderschöne, gepflegte junge Frau – Asuman und ich bewunderten sie sehr. Ihr Haar stylte sie mit großer Sorgfalt. Sie hatte sogar eine ganz eigene, unverwechselbare Frisur. Manchmal gaben uns junge Männer, die in sie verliebt waren, Briefe mit, die wir ihr überbringen sollten. Doch ab und zu erwischte uns unsere Großmutter mit einem dieser Briefe in der Hand. Dann geschah immer dasselbe: Der Brief wurde in Sekunden in kleine Stücke zerrissen und landete im Müll – ohne jemals sein Ziel zu erreichen.

Saime Ersin – ihre Lehrerschulzeit und ihre berühmte Frisur.
Saime Ersin – ihre Lehrerschulzeit und ihre berühmte Frisur.

Asuman und ich teilten unzählige Erinnerungen. Wir spielten mit unseren Puppen, bereiteten kleine Aufführungen vor und verbrachten viel Zeit in einem Baumhaus, das Arap Mustafa Amca für uns gebaut hatte. Dieser Mann hatte eine tiefschwarze Hautfarbe – daher nannten ihn alle Arap (Araber) Mustafa. Sein Weg führte ihn von Afrika auf die Insel Kreta und später in die Türkei. Mein Großvater hatte ihn während seiner Zeit in Izmir als Mitarbeiter angestellt, und schließlich waren sie gemeinsam nach Demirci gezogen.

Mustafa Amca erfüllte unsere Wünsche immer mit großer Freude, denn er hatte tiefen Respekt für meinen Großvater und meine Großmutter. Obwohl sie aus einer unehelichen Beziehung meines Großvaters Kasım stammte, heiratete sie später Cemal Ersin, den Cousin meines Großvaters Nuri Ersin, und wurde mit ihrer Familie zu einem wertvollen und bereichernden Teil unserer Familie. Ihr Haus lag direkt am Meer und war wunderschön. Ihre Kinder waren Tülay Hala und Güngör Amca. Damals gab es nicht so viele Häuser in Bayraklı wie heute. Wenn wir von Demirci nach Izmir reisten, stellte ich mir immer vor, dass sich unser Zuhause gleich hinter den Bayraklı-Hügeln befand – dass wir nur den Berg überqueren mussten, um dort anzukommen.


Wenn wir Izmir besuchten, erinnerte sich mein Vater manchmal an seine Schwester und rezitierte das Gedicht von A. M. Dranas: „Ne şirin komşumuzdun sen, Fahriye Abla…“ („Was für eine liebe Nachbarin du warst, Fahriye Abla…“) Und tatsächlich – als wir später nach Izmir zogen, wurden wir tatsächlich Nachbarn. Das alte Haus gibt es heute nicht mehr, aber an seiner Stelle steht nun ein neues, in dem Günseli und Cemal wohnen.  Meine andere Tante hieß Nermin. Sie lebte mit ihrem Mann, Haydar Enişte, in Eskişehir. Gemeinsam betrieben sie eine Werkstatt für die Reparatur von handgeknüpften Teppichen. Ich erinnere mich besonders daran, dass Haydar Enişte oft Bücher las. Ihre Töchter, Sevinç und Emel Hala, waren damals bereits verheiratet. Emel Halam lebte zunächst in Kütahya, dann verbrachte sie einige Jahre im Ausland, da ihr Mann Muammer Abi dort arbeitete. Ihre Kinder, Ayşın und Hamza, waren im gleichen Alter wie Handan und Nazan. Ihre Schwester Zehra Abla war noch nicht verheiratet. Sie war eine begabte Schneiderin und nähte wunderschöne Kleider.


Unsere Besuche bei Nermin Hala waren für uns immer ein großes Vergnügen. Zu manchen Feiertagen fuhren wir nach Eskişehir, um sie zu besuchen. Ihr Haus lag im Stadtteil Odunpazarı und war ein traditionelles altes Eskişehir-Haus. Eines meiner liebsten Möbelstücke in unserem eigenen Zuhause war unser „Şapkalı Soba“ – ein mit einem „Hut“ versehener, altmodischer Ofen. Diesen hatten wir aus Eskişehir mitgebracht.


Eine weitere Verwandte war Acemler Hala. Sie lebte mit ihrer Tochter Esma Hala, ihrem Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihrem Enkel in einem Haus unterhalb des Fußballplatzes. Manchmal besuchten wir sie. Ihr Familienname war eigentlich nicht Acemler, sondern ein Spitzname, der sich über die Jahre eingebürgert hatte.

Zu unserer Verwandtschaft gehörten auch Abdullah Amca, Bedia Hala und Melahat Hala. Abdullah Amcas Sohn Kadir und Bedia Halas Sohn Feyyaz waren unsere Spielkameraden, wenn wir sie abends besuchten. Feyyaz hatte eine immer wiederkehrende, nie endende Scherztradition: Er lief nach unten, krähte wie ein Hahn und kam dann wieder nach oben. Daraufhin drehte sich seine Großmutter jedes Mal zu ihm und sagte: „Schlachtet endlich diesen Hahn, der zur falschen Zeit kräht!“


Von der Seite meines Vaters sollte ich auch Hasan Amca erwähnen. Seine Frau kannte ich nicht, vermutlich war sie früh verstorben. Er hatte eine besondere Vorliebe für Blumen. Im Frühling pflanzte er Hyazinthen in leere Konservendosen und stellte sie ans Fenster. Der betörende Duft dieser Blumen empfing uns jedes Mal, wenn wir sein Zimmer betraten – bis heute scheint er mir in der Nase zu liegen. Außerdem hatte er eine weitere liebenswerte Tradition: Er bewahrte immer kleine braune Akide Şekerleri (karamellisierte Bonbons) auf und bot sie uns an.


Zu unseren Verwandten gehörten auch die Cousins meines Vaters: Mehmet, Ahmet und Mustafa Amca. Mehmet Amca arbeitete bei der Ziraat Bankası in Ankara. Wir sahen ihn als Kinder nie. Ahmet und Mustafa Amca hingegen arbeiteten bei der Tarım Kredi Kooperatifi (Landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft) und lebten in Demirci. Besonders Mustafa Amca sahen wir oft, da er in der Stadt wohnte. Dann war da noch Bahattin Amca. Ich erinnere mich besonders an ihn wegen eines besonderen Morgens im Jahr 1960. Es war der Morgen des Militärputsches. Er kam zum Küchenfenster und überbrachte uns die Neuigkeit über den Umsturz. Er verstarb früh. Seine Frau, Azize Yenge, war eine warmherzige, gutherzige Frau. Sie wohnten oberhalb des İtfaiye meydanı (Feuerwehrplatzes). Ihre Töchter, Sebahat und Nebahat Abla, waren bereits verheiratet. Ihr Sohn Mehmet Abi besuchte die Berufsschule in Istanbul, verbrachte aber die Sommerferien in Demirci. Wenn wir an den Sommerabenden mit meiner Mutter zu Besuch bei ihnen waren und meine kleine Schwester einschlief, nahm Mehmet Abi sie sanft auf den Arm und trug sie nach Hause. Er begleitete uns bis zu unserer Tür, damit wir sicher nach Hause kamen.


Ein weiterer Verwandter war Memduh Dayı. Ich erinnere mich auch an seine Mutter, Suat Anne, die bereits verstorben ist. Sie konnte es nicht ertragen, wenn unsere Haare ins Gesicht fielen. Jedes Mal zückte sie eine Haarspange aus ihrer Tasche und steckte sie uns ins Haar.


Eine besondere Erinnerung habe ich an die letzten Tage meines Großvaters. Er liebte Suat Annes handgemachten Su Böreği. Kurz vor seinem Tod hatte er großen Appetit darauf. Also machte sie das Börek und brachte es ihm. Ich sehe diese Szene noch vor mir – es war ein Ausdruck von Fürsorge und Verbundenheit. Später wurde Memduh Dayı Bürgermeister von Demirci. Seine Frau, Huriye Yenge, war eine äußerst reinliche und ordentliche Frau. Jetzt sind beide verstorben. Ihre Tochter Zekiye Abla war älter als wir und heiratete Halim Abi aus der Familie Barışıklar. An ihrem Hochzeitstag verstarb Kasım Demir, der Lehrer meiner Schwester Ümran. Es muss im Monat November gewesen sein, denn ich erinnere mich, wie jemand sagte: „Kasım Demir starb im Monat Kasım.“ Aus Respekt vor diesem tragischen Ereignis ließen sie auf der Hochzeit kaum Trommeln spielen. Die anderen Kinder von Memduh Dayı, Refika und Ethem, waren in unserem Alter. Ethem war es, der mir das Tischgebet beibrachte. Wir verbrachten viel Zeit zusammen und spielten oft gemeinsam. In ihrem Haus gab es eine Wanduhr, wie ich sie sonst nirgendwo gesehen hatte. Zu jeder vollen Stunde spielte sie das Lied „Entarisi Ala Benziyor“, und ein kleiner Vogel erschien. Egal, wie vertieft wir ins Spielen waren – diesen Moment verpassten wir nie.

Wir stellten uns jedes Mal ehrfürchtig vor die Uhr, als ob wir einer feierlichen Zeremonie beiwohnten. Jahre später, als ich auf dem Altstädter Ring in Prag die berühmte astronomische Uhr sah, erinnerte ich mich sofort wieder an unsere kindliche Faszination für diese Wanduhr in Demirci.


Meine arme Mutter hatte nur zwei Schwestern. Sie konnte nie die Fülle und das reiche Miteinander einer großen Familie erleben, wie wir es taten. Meine Tante Muazzez und ihr Mann İhsan Eniştem lebten in der Zeit, an die ich mich erinnere, in Akhisar. İhsan Eniştem arbeitete bei der Tekel-Behörde. Ihre Kinder Güzide, Güzin und Kevser kamen während der Sommerferien oft nach Demirci, und wir verbrachten einen Teil der Ferien gemeinsam im Weinberg, den mein Großvater, der einst als Tabur İmamı tätig war, hinterlassen hatte. Schon allein der Umzug in den Weinberg war jedes Mal ein Abenteuer. Zunächst wurden alle notwendigen Dinge gepackt und auf das Auto geladen, dann machten wir uns auf den Weg. Während unsere Mütter nach der Ankunft müde waren, waren wir voller Aufregung. Nachdem das Haus gründlich gereinigt war, wurde auch der Garten hergerichtet. Am späten Nachmittag wurde das gesammelte trockene Laub und der Müll verbrannt. Dann riefen wir in Richtung der Weinbergnachbarn: „Ha var yo, var yo, Mehmet Efendilere var yo!“ Je nachdem, an wen die Nachricht gehen sollte, wurde der Name entsprechend geändert. Es fühlte sich fast so an, als würden wir mit Rauchzeichen kommunizieren.


Ich freute mich immer besonders, wenn Muazzez Teyzem ankam. Das Spielen mit Güzide, Güzin und Kevser war ein großes Vergnügen. Güngör und Güner hielten sich meist zurück, da sie als Jungen nicht so sehr an unseren Spielen interessiert waren. Meine Tante hatte eine ganz besondere Art, mich anzusprechen. Da ich ihr erstes Kind war, nannte sie mich liebevoll „İlk göz ağrım“ – „Mein erster Augenschmerz“, eine türkische Redewendung für das erstgeborene oder erste geliebte Kind. In meiner kindlichen Vorstellung machte mich diese Bezeichnung einzigartig und besonders.

Im Sommerhaus mit den Kindern von Tante Muazzez
Im Sommerhaus mit den Kindern von Tante Muazzez

Nachdem Gönül Teyze geheiratet hatte, zog sie in ein eigenes Haus. İsmail Enişte war wirklich ein sehr guter Mensch. Er arbeitete bei Sümerbank. Zunächst wohnten sie im Haus meines Großvaters, das damals als das beste Wohnhaus in Demirci galt. Dort spielten wir oft mit ihren Kindern, Hasan und Azize. Später mussten sie aufgrund der Versetzung von İsmail Enişte nach Malkara umziehen. Dennoch trafen wir uns zu besonderen Anlässen und in den Schulferien wieder. Zunächst hatten sie nur zwei Kinder, Hasan und Azize. Nachdem wir nach Izmir gezogen waren, kam ihr drittes Kind, Volkan, zur Welt und wurde Teil unserer großen Familie.

Die Hochzeit von Tante Gönül
Die Hochzeit von Tante Gönül

In Demirci hatten wir mütterlicherseits keine Verwandten. Meine Mutter hatte keine Tante, keinen Onkel oder Cousins ersten Grades. Die einzigen Verwandten von ihrer Seite waren die Kinder ihrer Tante: Nevzat Dayı, Refik Dayı und Mukadder Teyze. Refik Dayı und Mukadder Teyze haben wir kennengelernt, doch Nevzat Dayı, von dem wir nur wussten, dass er Soldat war, haben wir nie getroffen.


Mit Mukadder Teyze verstanden wir uns besonders gut. Sie war eine sehr außergewöhnliche Frau und unterrichtete Philosophie am Gymnasium in İskenderun. Sie blieb ihr Leben lang unverheiratet. Sie nannte meine Mutter stets „Güner“ und hatte eine große Zuneigung zu meinem Vater. Sie sagte oft: „Gut, dass du Muammer Enişte geheiratet hast.“ Außerdem erinnere ich mich an Huriye Teyze, die von meinem Großvater großgezogen wurde, sowie an Safiye Teyze, die von allen „Tekerleklerin Safiye Teyze“ genannt wurde. Ich weiß nicht genau, in welchem Verwandtschaftsverhältnis wir zu ihr standen, aber ich glaube, wir waren nicht eng verwandt. Sie lebte allein und kam manchmal abends zu Besuch. Wenn sie nach Hause ging, nahm sie mich oft mit, und ich übernachtete dann bei ihr.


Neben der Verwandtschaft spielte die Nachbarschaft in meinen Erinnerungen eine große Rolle. Es gibt ja das Sprichwort: „Kauf kein Haus, kauf dir lieber einen guten Nachbarn.“ Wann und wie unser Haus gekauft wurde, weiß ich nicht – aber eines ist sicher: Es war eine glückliche Entscheidung. Unsere Nachbarn waren ein fester Bestandteil unserer Kindheit. Wenn ich an sie denke, werde ich von schönen Erinnerungen erfüllt. In unserer Straße wurden viele Spiele gespielt, die Gemeinschaft war stark, und Freude wie Trauer wurden gemeinsam geteilt. Da viele Frauen tagsüber an ihren Webstühlen arbeiteten und Teppiche knüpften, fanden die Besuche meist abends statt. Die Männer gingen in den Şehir Lokali (Stadtclub) oder ins Teehaus, während die Frauen und Kinder sich in den Häusern trafen. Es wurde Tee getrunken, und als Snacks gab es getrocknete Trauben, Jujube-Früchte und zerbrochene Kichererbsen. Von industriell verpackten und ungesunden Lebensmitteln war keine Spur – unsere Ernährung war, wie man heute sagen würde, „bio“, ganz natürlich.


Wir Kinder spielten Yüzük Saklama (Verstecke den Ring), Nesi Var? (Was hat er?), İsim-Hayvan-Bitki (Name-Tier-Pflanze) oder Hareketli Tıp (Bewegtes Stille-Post-Spiel). Ein Spiel, das ich nirgendwo sonst gesehen oder gehört habe, hieß „Hen, hen, hen, ne diyon sen?“ (Hen, hen, hen, was sagst du da?). Dabei saßen wir im Kreis auf den Knien, und einer wurde zum „Ebe“ (Spielführer) bestimmt. Alle klatschten im Takt auf den Boden und riefen: „Hen, hen, hen!“ Dann schlug der Ebe auf die Hand einer beliebigen Person, woraufhin diese fragen musste: „Hen, hen, hen, was sagst du da?“ Der Ebe gab dann eine Aufgabe: „Bellen wie ein Hund!“, „Schreien wie ein Esel!“ Die Person musste die Aufgabe sofort erfüllen – und wir lachten uns dabei jedes Mal kaputt. Später, als wir älter wurden, spielten wir eher Denkspiele wie Nesi Var? oder İsim-Şehir-Hayvan.


Heute wachsen Kinder mit Technologie auf. Schon im Mutterleib begegnen sie durch dreidimensionale Ultraschallbilder der digitalen Welt und wachsen in einem schnellen technologischen Wandel auf. Wie ich bereits gesagt habe, finde ich es schwierig, verschiedene Zeiten zu vergleichen. Ich frage mich oft: „War unsere Zeit besser oder die heutige?“ Doch ich finde nie eine eindeutige Antwort.


Unsere direkten Nachbarn, Fethiye Teyze und ihr Mann Şerif Amca, waren wunderbare Menschen.Fethiye Teyze hatte in ihrem Innenhof einen Teppichwebstuhl und verbrachte den ganzen Tag damit, Teppiche zu knüpfen. Wenn es kalt war, stellte sie eine kleine Kohlenpfanne neben sich, um sich zu wärmen. Ihr Haus war zweistöckig, doch meistens hielten sie sich im unteren Stockwerk auf. Sie hatten eine eigene Quelle im Haus – damals gab es noch keine fertig abgefüllten Wassergallonen wie heute. Besonders im Sommer und im Ramadan, kurz vor dem Fastenbrechen, holten wir oft Wasser aus ihrem Haus.

Nie hörte ich von ihnen ein genervtes „Off, es reicht jetzt!“ – sie halfen uns immer bereitwillig. Ihre Tochter Reyhan Abla war eine wunderschöne Frau. In meiner kindlichen Fantasie verglich ich sie immer mit der berühmten Schauspielerin Fatma Girik. „Ach, wenn sie doch genauso berühmt wäre, dann wären wir Nachbarn einer Berühmtheit!“ dachte ich oft. Jahre später erfuhr ich, dass sie in relativ jungen Jahren verstorben war. Es machte mich sehr traurig.


Wie schon zuvor erwähnt, besuchten wir unsere Nachbarn meistens am Abend. Es war nicht nötig, vorher Bescheid zu geben. Wenn der Besuch etwas formeller sein sollte, schickten die Erwachsenen uns Kinder als Boten mit der Nachricht: „Falls ihr nichts vorhabt, kommen wir euch besuchen.“ Doch bei unseren direkten Nachbarn wie Fethiye Teyze war das nicht nötig – wir gingen einfach vorbei. Wenn wir sie besuchten, brachte Reyhan Abla uns oft Kırık Leblebi – halbierte, geröstete Kichererbsen, die man bei Çerkez Hakkı kaufen konnte. Es war eine kleine Geste, aber für uns Kinder war es ein Genuss. Kurz darauf wurden geschälte Äpfel serviert, die unseren Durst löschten. Edip Abi und Mehmet Abi jedoch flößten mir immer eine gewisse Ehrfurcht ein – warum genau, weiß ich nicht. Ich hatte einfach Respekt vor ihnen.


Eine weitere Nachbarsfamilie war die, die unter dem Spitznamen „Abazalar“ bekannt war. Drei Brüder lebten mit ihren Ehefrauen und Kindern gemeinsam in einem großen Haus. An der Hauswand prangte ein riesiger Halbmond mit Stern in Reliefform.

Soweit ich mich erinnere, war ihr Haus zweistöckig. Im Erdgeschoss befanden sich vermutlich eine Vorratskammer und einige verschlossene Räume, doch wir Kinder hielten uns dort kaum auf. Im Obergeschoss gab es einen großen Salon und separate Zimmer für die drei Brüder und ihre Familien.


Die Abazalar gehörten zu den wohlhabendsten, vielleicht sogar zu den reichsten Familien in Demirci. Sie besaßen das Busunternehmen, das den Transport in der Region organisierte. Trotz ihres Reichtums führten sie ein sehr bescheidenes Leben. Ihre traditionelle Familienstruktur verlangte es, dass sie alle unter einem Dach lebten.

Die älteste Schwiegertochter, Emine Yenge, hatte drei Töchter: Fatma Abla, Melahat Abla und Suzan Abla – allesamt warmherzige, liebenswerte Menschen. Fatma Abla zog nach Izmir, nachdem sie geheiratet hatte. Melahat Abla war eine sehr humorvolle Frau, die uns Kinder oft zum Lachen brachte. Wenn wir die Abazalar besuchten, wurden wir von Suzan Abla und Melahat Abla bewirtet. Was ich besonders mochte: Sie behandelten uns Kinder nicht anders als die Erwachsenen. Sie gaben uns genau dieselben Teller wie den Erwachsenen, anstatt uns – wie es sonst üblich war – am Boden auf einer Decke mit Plastiktellern und -bechern separat essen zu lassen. Das machte ihre Besuche für mich besonders schön. Später heiratete Suzan Abla Edip Abi, den Sohn unserer Nachbarin Fethiye Teyze, und wurde damit die Braut unseres Viertels.


Die andere Schwägerin der Abazalar-Familie war Ayten Yenge. Sie hatte drei Kinder: Şeref, Zeki und Birgül. Ihr Sohn Zeki Orhun war mein Grundschulfreund und ein äußerst fleißiger Schüler. Während wir draußen spielten, saß er meist zu Hause und lernte. In den Prüfungen schrieb er stets die besten Noten, was ihn in den Augen der Erwachsenen zu einem Vorbild machte. Meine Mutter ermahnte mich oft mit den Worten: „Schau, Zeki lernt fleißig, während du nur draußen herumtobst!“ Vielleicht entwickelte ich deshalb insgeheim eine gewisse Abneigung gegen ihn. Jahre später, als ich eine Veranstaltung im Saruhan Otel in Manisa organisierte, gestand ich ihm dieses Gefühl. Danach fühlte ich mich endlich erleichtert. Seine Schwester Birgül war im gleichen Alter wie Handan und wurde Jahre später durch ihre Ehe mit Ethem Çakmakoğlu Teil unserer Familie, worüber wir uns alle sehr freuten.


Die Frau von Emine Yenge war Hafız Amca. Er war sehbehindert, aber seine Lebensfreude und sein Familiensinn blieben ungebrochen. Sie hatten zwei Söhne und eine Tochter. Ich erinnere mich besonders an Nermin Abla mit ihren langen, geflochtenen Haaren. Süleyman war mein Klassenkamerad, und wir verbrachten viel Zeit miteinander.

Eine weitere Nachbarin, die mir in Erinnerung geblieben ist, war Nazire Teyze, die von allen unter dem Spitznamen „Haber Anlamazların Nazire Teyze“ bekannt war. Sie war berühmt-berüchtigt dafür, dass sie uns Kinder ermahnte, wenn wir beim Spielen zu laut wurden. Sie öffnete dann das Fenster und rief uns zu, wir sollten nach Hause gehen. Doch wir nahmen das nie besonders ernst und spielten einfach weiter. Ihre Kinder hießen Abdullah, Muzaffer, Fethiye und Fazilet, wobei wir am häufigsten mit Fethiye spielten. Ich erinnere mich noch genau an das Bild von Nazire Teyze, wie sie fast immer am Fenster saß und die Straße beobachtete. Jahre später, als ich nach Demirci zurückkehrte, fand ich sie genau dort wieder – am Fenster, wie eh und je. Sie sprach uns an und fragte, wer wir seien. Als wir im typischen Demirci-Dialekt antworteten: „Wir sind die Töchter von Tabir Mamların Muhattep.“, war ihr Lächeln nicht zu übersehen.


Unsere Nachbarn Huy Huylar, die später unser Haus kauften, waren eine Familie, die wir oft besuchten. Zwei Schwägerinnen lebten gemeinsam unter einem Dach. Unter ihrem Haus hielten sie Tiere, die jeden Morgen früh auf die Weide getrieben wurden. Das Klangspiel der Glocken, die an den Hälsen der Tiere befestigt waren, hatte für uns die Anmut einer Mozart-Symphonie. Die ältere Schwägerin hieß Şerife Yenge. Sie hatte zwei Söhne und war im Viertel als eine Art „Heilerin“ bekannt. Damals gab es noch nicht so viele medizinische Diagnosen wie heute, und wenn wir Bauchschmerzen hatten, brachte meine Mutter uns zu Şerife Yenge. Mit der Gelassenheit einer Fachärztin erklärte sie: „Das ist ein verrutschter Nabel.“ Dann ließ sie uns mit dem Bauch nach unten auf den Boden legen, hielt unsere Hände und Füße fest, drehte uns geschickt um und „platzierte“ den Nabel durch eine spezielle Massage wieder an seinen Platz. Ich fragte mich immer, wie ein Nabel überhaupt verrutschen konnte – und noch mehr, wie sie ihn jedes Mal wiederfand. Während dieser Prozedur sprach sie unaufhörlich Gebete. Doch ihre Fähigkeiten beschränkten sich nicht nur auf Heilbehandlungen – sie war auch dafür bekannt, Ohren zu piercen.


Auch ich ließ mir meine Ohren von ihr durchstechen. Damals war es nicht so einfach wie heute, wo es mit einem Gerät erledigt wird, das einer Heftklammer ähnelt. Eines Tages bat ich meine Mutter voller Begeisterung, mir die Ohren durchstechen zu lassen. Meine Mutter sprach mit Şerife Yenge, und ich lief voller Freude zu ihr – ahnungslos, was mir bevorstand. Şerife Yenge fädelte einen Faden durch eine Nadel, massierte mein Ohrläppchen und hielt die Nadel dann über eine Flamme. Erst in diesem Moment wurde mir die Ernsthaftigkeit der Situation bewusst – doch da war es bereits zu spät. Mit einem stechenden Schmerz durchbohrte die Nadel mein Ohrläppchen von einer Seite zur anderen. Die Tränen standen mir in den Augen, doch ich war im Begriff zu fliehen, als plötzlich der gleiche Schmerz mein linkes Ohrläppchen durchfuhr. Şerife Yenge hatte meine Fluchtbewegung bemerkt, mich mit einer Hand am Arm gepackt und mit der anderen das zweite Ohr durchstochen. Das Ergebnis: Mein linkes Ohrloch ist bis heute leicht schief. Jedes Mal, wenn ich Ohrringe anlege, erinnere ich mich an diese Episode und muss lachen.


Die andere Schwägerin im Haus war Ayşe Yenge. Sie war eine ruhige, zurückhaltende Frau und tat, wie viele andere Frauen in Demirci, nichts anderes als Teppiche zu knüpfen. Sie hatte drei Kinder: Hüseyin, Şerif und Huriye. Şerif war mein Klassenkamerad in der Grundschule. Ihr Großvater war jedoch eine recht launische Person. Şerif erzählte uns manchmal ein Gedicht, das sein Großvater für seine vier Schwiegertöchter verfasst hatte:

„Ich wollte einen Moslem – er entpuppte sich als Unglaube. Ich wollte das Paradies – es wurde zur Hölle. Ich wollte Baumwolle – sie stellte sich als Samt heraus. Ich heiratete eine Frau – sie war verrückt.“


Anscheinend war er nur mit einer seiner Schwiegertöchter zufrieden! Wenn wir Ayşe Yenge besuchten, spielten wir am liebsten Bilmece Sorma (Rätselraten) oder Yüzük Saklama (Verstecke den Ring). Wenn es Zeit wurde, nach Hause zu gehen, verabschiedeten wir uns – auf eine Weise, die ich heute nicht mehr mit Demirci in Verbindung bringen würde:

„Wir zünden eure Laterne an, wir schauen euch nach. Steht auf und geht, wir sagen schon lange, dass es Zeit ist!“

Ein weiterer Nachbar war Zehra Yenge, die als Frau von Bulgar Sadık bekannt war. Sadık Amca war Fernfahrer und daher selten zu Hause. Seine Frau, Zehra Yenge, war eine sehr ruhige und gelassene Frau. Während einige Frauen aus der Nachbarschaft wegen ihrer Kinder in Streit gerieten, hielt sie sich immer heraus. Sie hatte drei Kinder: Hüseyin, Nezahat und Raşit. Nezahat war etwas jünger als ich. Sie war ein kluges, lebhaftes Mädchen. Raşit und Handan waren sehr gute Freunde. Sogar so sehr, dass Handan einmal sagte: „Die größte Wahrheit im Leben ist nicht die Wissenschaft, sondern Raşit!“ Sie hatte den berühmten Satz von Mustafa Kemal Atatürk – „Hayatta en hakiki mürşit ilimdir“ („Die einzig wahre Führung im Leben ist die Wissenschaft“) – aus Zuneigung zu Raşit für ihn umgedichtet. Leider verstarb Raşit schon in jungen Jahren.


Weiter unten am Hang wohnte die Familie von Esma Teyze aus der Hilli-Familie. Ihr Sohn Sefer spielte manchmal mit uns. Seine wichtigste Aufgabe in unseren Spielen bestand darin, den Ball aus der Boyahane (Färberei) zu holen, wenn er dort hineinrollte. Wir anderen hatten Respekt davor, hineinzugehen – doch Sefer stürzte sich jedes Mal mit der Entschlossenheit eines siegreichen Generals hinein und brachte den Ball zurück.

Eine meiner liebsten Nachbarinnen war Kevser Teyze, die etwas weiter entfernt wohnte. Ein Besuch bei ihr war für mich immer etwas Besonderes, und ich freute mich jedes Mal darauf. Jedes Mal, wenn wir zu ihr gingen, bemühte ich mich, mich besonders schön anzuziehen. Damals hatten wir nicht viele Kleidungsstücke wie heute. Unsere gesamte Wäsche passte in einen Korb, der unter dem Diwan aufbewahrt wurde. Neue Kleidung gab es nur zweimal im Jahr – zu Ramadan und zum Kurban Bayramı. Meistens nähte meine Mutter oder Hatice Halam unsere Kleider selbst. Mein absolutes Lieblingskleid war ein fliederfarbenes, mit zwei Lagen Rüschen, das Hatice Halam für mich genäht hatte. Es war mein ganzer Stolz. Wenn wir zu Kevser Teyze gingen, zog ich mir immer das schönste Kleid an, das ich besaß. Ich konnte es kaum erwarten, dass sie uns mit ihrem berühmten, kunstvoll servierten Obst bewirtete. Mein Herz klopfte so aufgeregt, dass ich dachte, jeder im Raum könne es hören.


Kevser Teyze hatte zwei Kinder, Mustafa und Sema. Wir spielten oft zusammen, und eines meiner liebsten Vergnügen war es, mit Sema auf der Schaukel zu sitzen und uns wie Prinzessinnen zu fühlen. Nach dem Spielen setzten wir uns hin und warteten gespannt auf den Moment, in dem Kevser Teyze aus der Küche kam. Sie hatte eine besondere Art, Äpfel zu servieren: Sie schälte die Äpfel in einer durchgehenden Spirale, rollte die Schalen kunstvoll zusammen und legte die geschälten Äpfel mit einer brennenden Kerze auf ein Tablett. Dann löschte sie das Licht, und während sie das Tablett ins Zimmer trug, sah es aus, als würde eine kleine Lichterprozession durch den Raum ziehen. Für uns Kinder war das jedes Mal ein magischer Moment – fast so, als würden wir ein Fest feiern. Es war nicht nur eine einfache Geste des Servierens, sondern eine liebevolle Inszenierung, die uns Kinder jedes Mal in Staunen versetzte.


Leider sollte dieses Glück nicht von Dauer sein. Sema verließ uns viel zu früh und starb in jungen Jahren. Als ich davon erfuhr, konnte ich es kaum glauben. Ich erinnerte mich an all die glücklichen Tage, die wir gemeinsam verbracht hatten, an unser Lachen auf der Schaukel, an die dunklen Abende, an denen das Licht der Apfelschalen-Kerze im Raum flackerte. Es war, als wäre ein Stück meiner Kindheit mit ihr gegangen. Jahre später folgte ihr Bruder Mustafa – ein weiterer schwerer Verlust für die Familie und alle, die sie kannten. Ihr Tod hinterließ eine tiefe Trauer. Die Erinnerungen, die einst voller Freude waren, wurden von Schmerz überschattet. Doch jedes Mal, wenn ich an Kevser Teyze denke, sehe ich noch immer das warme Licht der Kerze, das über die glänzenden Apfelschalen tanzt, und fühle die Freude jener unbeschwerten Kindheitstage. Trotz allem bleiben diese Erinnerungen als ein Symbol für Liebe, Fürsorge und die Schönheit kleiner Gesten, die das Leben so besonders machen.


Die Familie von Mebrure Teyze gehörte zu den engsten Freunden meiner Eltern, und wir besuchten sie oft. Ihr Mann, Nuri Amca (Ziraatçı Nuri), war nicht nur für sein Fachwissen in der Landwirtschaft bekannt, sondern auch für seine wunderschöne Stimme. Besonders beeindruckend war sein Talent für Tangos, die er mit großer Leidenschaft sang. Einer seiner Favoriten war „Sevdim Genç Bir Kadını“, dessen Zeilen oft in seinem tiefen, ausdrucksstarken Gesang durch das Zimmer hallten:

"Kemanımla ona bir ses verebilseydim eğer, Bu sesimle ona ersem bu dünyaya değer."

Wenn Nuri Amca dieses Lied anstimmte, verstummten alle Gespräche, und der Raum wurde von der melancholischen Melodie erfüllt. Es war ein Moment voller Nostalgie und Schönheit, den ich nie vergessen werde.


Während die Erwachsenen sich unterhielten, spielten wir Kinder miteinander. Die Töchter von Mebrure Teyze, Güzide, Ferda und Ferhan, sowie ihr Sohn Edip waren unsere Spielkameraden. Ferda war in meinem Alter, während Ferhan gleich alt mit meiner Schwester Ümran war. Unsere Spiele dauerten oft bis spät in den Abend hinein, und die Zeit bei ihnen verging immer wie im Flug.


Auch Ülker Teyze und Naci Amca waren enge Freunde unserer Familie, mit denen wir häufig Zeit verbrachten. Naci Amca war bekannt für seinen Humor – er hatte stets einen Scherz oder eine lustige Geschichte parat, die uns alle zum Lachen brachte. Doch trotz seiner fröhlichen Art erlitt ihre Familie einen schweren Schicksalsschlag, als ihr Sohn Haluk bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Sein plötzlicher Tod erschütterte nicht nur seine Familie, sondern auch uns alle zutiefst.


Ihre Töchter, Semra und Zehra, spielten oft mit meiner Schwester Ümran und meiner jüngeren Schwester Handan, da sie im gleichen Alter waren. Gemeinsam erlebten wir viele unbeschwerte Tage, und die Besuche bei ihnen gehörten zu den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit.


Ein besonderes Ritual, das ich nie vergessen werde, waren die winterlichen Abende, an denen mein Vater zusammen mit Naci Amca und Nuri Amca versuchte, Pişmaniye (eine türkische Süßigkeit aus gezogener Zuckerwatte) herzustellen. Sie waren voller Eifer dabei, doch ehrlich gesagt waren ihre Versuche nicht immer von Erfolg gekrönt. Trotzdem war es für uns Kinder ein großer Spaß, ihnen dabei zuzusehen. Die Art, wie sie den Zucker kneteten, auseinanderzogen und versuchten, ihn in die richtige Konsistenz zu bringen, war ein Spektakel für sich. Obwohl das Ergebnis selten so perfekt wurde wie das Pişmaniye aus den Süßwarenläden, hatten wir eine Menge Freude daran. Es war nicht das Endprodukt, sondern das gemeinsame Erlebnis, das zählte. Der Duft von karamellisiertem Zucker, das Lachen der Erwachsenen und unser kindliches Staunen machten diese Abende zu ganz besonderen Momenten in meinem Leben.


Neben den Nachbarn gab es auch andere Bekannte, für die regelmäßig „Gün“ (Treffen unter Frauen) organisiert wurde. Jede Frau konnte sich einen festen Tag im Monat als ihren „Kabul Günü“ (Empfangstag) auswählen. Meine Mutter hatte den 2. und den 22. eines jeden Monats festgelegt. Sollte der Tag auf einen Markttag fallen, wurde das Treffen automatisch auf den nächsten Montag verschoben. Diese Treffen waren immer mit gewissen Vorbereitungen verbunden. Das Haus wurde gründlich gereinigt, die Holzböden mit Bürsten geschrubbt und das gesamte Mobiliar auf Hochglanz gebracht. Die Bewirtung bestand stets aus einer festen Kombination: Kek, Poğaça und Kurabiye – Kuchen, herzhafte Teigtaschen und Plätzchen. Keine Rede von Cheesecake, Brownies oder sonstigen modernen Gebäckstücken mit fremdklingenden Namen. Die Idee, solche Treffen in einem Café abzuhalten, geschweige denn dort eine „Goldene Runde“ oder „Dollar-Runde“ zu veranstalten, wäre damals undenkbar gewesen.


Die Blumendekoration in der Empfangsstube bestand meist aus Begonien, Monsterablättern oder einem Gummibaum. Pflanzen wie Strelitzien, Yucca-Palmen oder Orchideen waren damals noch nicht so verbreitet. Eine weitere, fast schon rituelle Tradition war das Platzieren der grün verpackten, mentholhaltigen Çamlıca-Zigaretten in einem speziellen Behälter auf dem Couchtisch. Es gehörte zum guten Ton, den Gästen auch Zigaretten anzubieten, selbst wenn nicht alle rauchten. An diesen Empfangstagen wartete meine Mutter geduldig auf den Besuch ihrer Freundinnen. Manchmal kamen viele, manchmal weniger – und gelegentlich erschien niemand. Doch meine Mutter ließ sich dadurch nie entmutigen oder traurig stimmen. Sie nahm es gelassen hin, als wäre es völlig selbstverständlich. Wir Kinder hingegen freuten uns insgeheim, wenn niemand kam, denn dann blieben die Leckereien ganz für uns übrig.


Meine Mutter führte sogar ein kleines „Gün“-Notizbuch, in dem alle Teilnehmerinnen und ihre jeweiligen Termine sorgfältig eingetragen waren. Diese Treffen waren mehr als nur geselliges Beisammensein – sie waren ein fester Bestandteil der sozialen Struktur, ein Raum für Austausch, Gespräche und Verbundenheit.


Heute, in den Städten, in denen wir nun leben, gibt es solche Nachbarschaftsbeziehungen kaum noch. Wir wohnen in modernen, technologisch ausgestatteten Smart Homes, doch diese Häuser haben keine Seele. Anstelle echter Begegnungen verschicken wir emotionslose Kopier-und-Einfüge-Nachrichten zu Feiertagen oder freitags zum Gebet. Unsere Gefühle drücken wir durch Emojis aus, und anstelle persönlicher Gespräche glauben wir, mit dem bloßen Versenden von positiven Energien etwas zu bewirken.

In unseren Unterhaltungen verwenden wir immer weniger Worte, ersetzen differenzierte Ausdrucksweisen durch das ständige Wiederholen von „aynen“ (dt. „genau“) und täuschen uns damit vor, wirklich zu kommunizieren. Wir sehnen uns nach einem Leben, das wir aus Serien und Fernsehshows kennen, orientieren uns an fremden Vorbildern und träumen von schnellem Reichtum, anstatt uns auf das zu besinnen, was uns wirklich ausmacht.

Unsere Kindheit war geprägt von echten Beziehungen, tief verwurzelten Traditionen und einfachen, aber bedeutungsvollen Begegnungen. Heute hingegen leben viele Menschen isoliert – vernetzt durch Technik, aber entfremdet voneinander. Wenn ich an die „Gün“-Treffen meiner Mutter denke, spüre ich die Wärme dieser vergangenen Tage, in denen es nicht um Perfektion oder Äußerlichkeiten ging, sondern um echte, aufrichtige Gemeinschaft.


Die Feiertage unserer Kindheit


Meine Begeisterung für die Etymologie hat mich schon immer dazu gebracht, den Ursprüngen von Wörtern nachzugehen. Das Wort „Bayram“ stammt ursprünglich aus dem Persischen und wurde im Alt-Türkischen als „Badram“ verwendet. Seine Bedeutung umfasst Begriffe wie Freude, Frieden, Glück und Harmonie. In seiner tiefsten Bedeutung steht es nicht nur für einen Feiertag, sondern auch für ein Fest der Versöhnung, der Ruhe und des gemeinschaftlichen Glücks. Nationale und religiöse Feiertage haben für uns eine besondere Bedeutung – sie sind heilige Tage, die wir als gesamte Gesellschaft feiern. Doch insbesondere die Feiertage unserer Kindheit hatten eine ganz eigene, unvergessliche Magie.

Heute wird das Wort „Bayram“ leider oft nur noch mit „Ferien“ gleichgesetzt. Die Bedeutung hat sich verschoben, und die tiefe emotionale Verbindung, die wir einst damit hatten, scheint in den Hintergrund zu treten.


In Demirci wurde von den offiziellen Feiertagen insbesondere der 19. Mai (Jugend- und Sportfest) auf dem großen Sportplatz gefeiert. Bevor das Lehrerseminar eröffnet wurde, gab es in Demirci noch keine weiterführende Schule, sodass die festlichen Darbietungen hauptsächlich von Schülern der Mittelschule übernommen wurden. Ich selbst konnte in der ersten Klasse der Mittelschule aufgrund einer Blinddarmoperation nicht am Sportunterricht teilnehmen und war daher von den Vorführungen befreit. Für mich war es jedoch eine große Freude, die Aufführungen der anderen Schüler zu beobachten – insbesondere die gemischten Gruppen von Jungen und Mädchen.


Die Feierlichkeiten waren voller eindrucksvoller Choreografien: Die Schüler sprangen elegant über Turnkästen, führten akrobatische Übungen vor, und als krönenden Abschluss entfalteten sie eine große türkische Flagge. Wir Zuschauer jubelten voller Stolz und klatschten so lange, bis unsere Hände schmerzten. Andere nationale Feiertage wurden auf dem Platz vor dem damaligen Rathaus gefeiert. Die Zeremonie begann stets mit der Kranzniederlegung am Atatürk-Denkmal, das sich direkt vor dem Ersin-Apartment befand. Danach folgte eine Parade, bei der Schüler in traditionellen Dorfbewohner-Kostümen sowie die „Yavru Kurtlar“ (die jungen Pfadfinder) und die Mehter-Kapelle (die osmanische Janitscharenkapelle) mitmarschierten.


Im Laufe meiner Schulzeit war ich selbst Teil dieser Festumzüge – mal als Pfadfinderin, mal als Mitglied der Mehter-Kapelle, ein anderes Mal als traditionell gekleidetes Dorfmädchen. Besonders in der Mehter-Kapelle zu marschieren war eine große Ehre, da es das erste Mal in der Geschichte von Demirci war, dass Schülerinnen daran teilnahmen. Unser imposanter Gang, begleitet von den kraftvollen Trommelschlägen, blieb vielen in Erinnerung. Am Tag der Feierlichkeiten verwandelte sich der Balkon des Hauses meiner Großmutter in eine exklusive Tribüne. Menschen – ob Verwandte oder Fremde – versammelten sich dort, um das Spektakel zu genießen. Der Balkon war bis auf den letzten Platz gefüllt, und es herrschte eine feierliche Aufregung, die sich über die ganze Stadt ausbreitete.


Am Abend folgte traditionell der Fackelumzug (Fener Alayı), der eine besondere Atmosphäre schuf. Mit brennenden Fackeln in den Händen zogen wir durch die Straßen von Demirci, begleitet von Gesängen und Musik. Die warmen Lichter der Fackeln spiegelten sich auf den Häuserfassaden wider und verliehen dem Umzug eine fast mystische Stimmung. Für uns Kinder waren besonders der 29. Oktober – Tag der Republik und der 23. April – Tag der Nationalen Souveränität und des Kindes von großer Bedeutung. Diese Feiertage waren nicht nur schulische Pflichten, sondern echte Festtage, die uns mit Vorfreude erfüllten. Damals fanden die offiziellen Zeremonien nicht nur auf dem Schulhof statt – jede Schule bereitete eine eigene Vorführung vor, die voller Stolz präsentiert wurde.


Die Feiertage unserer Kindheit waren nicht einfach nur arbeitsfreie Tage – sie waren ein Symbol der Gemeinschaft, der Freude und der Zugehörigkeit. Sie lehrten uns Stolz auf unser Land, Respekt vor unserer Geschichte und die Bedeutung von Zusammenhalt. Wenn ich an diese Tage zurückdenke, spüre ich noch immer die unbeschreibliche Aufregung, die Vorfreude beim Anziehen unserer festlichen Schuluniformen und den Stolz, Teil dieser großen Feierlichkeiten gewesen zu sein.


Die festlichen Darbietungen wurden auch auf dem Marktplatz präsentiert. Schüler, die von den Schulen ausgewählt wurden, trugen Gedichte vor, und am Abend fand erneut eine Fener Alayı (Fackelparade) statt. Die Feiertage wurden mit einer ganz eigenen Intensität gelebt – voller Freude, Tradition und tiefer Verbundenheit. Besonders die Vorbereitungen für das Ramazan Bayramı (Zuckerfest) und das Kurban Bayramı (Opferfest) waren in den Häusern mit reger Betriebsamkeit verbunden. Während des gesamten Ramadan-Monats wurde gefastet, und der Ramadan-Trommler zog jede Nacht durch die Straßen, um die Menschen mit traditionellen Maniler (volkstümlichen Reimversen) für das Sahur (Frühstück vor Sonnenaufgang) zu wecken.


Oft sang er vor unserer Haustür eine Strophe für meinen Vater: "Uyan Muammer Efendi, uyan, Kadife yastığa dayan, Allah seni düşürmesin, Benim gibi yollara yayan." (Steh auf, Herr Muammer, steh auf Lehn dich an dein Samtkissen,Möge Gott dich nicht wie mich auf den Straßen umherirren lassen.) Dann schob mein Vater ihm leise das Trinkgeld an den Rand der Trommel. Ich selbst stand manchmal für das Sahur-Mahl auf, auch wenn ich es als Kind oft nicht schaffte, den ganzen Tag zu fasten. Stattdessen hielt ich das sogenannte „Tekne Orucu“ (halbtägiges Fasten), aber manchmal konnte ich auch bis zum Abend durchhalten. Für das İftar (Fastenbrechen) bereitete ich mir eine kleine Tüte mit meinen Lieblingsleckereien vor, um genau das essen zu können, worauf ich den ganzen Tag gewartet hatte.


Der letzte Abschnitt des Ramadan wurde Arife genannt, und damals gab es noch drei Arife-Tage. Am ersten Tag wurde das Haus gründlich gereinigt, und die traditionellen Baklava wurden gebacken. Das gesamte Haus wurde für Besucher vorbereitet. Mein Vater war für den Einkauf von Bayram-Süßigkeiten und anderen benötigten Dingen verantwortlich. Am letzten Arife-Tag waren schließlich alle Vorbereitungen abgeschlossen – einschließlich unserer festlichen Kleidung. Da die Bäckereien am Bayram-Tag kein frisches Brot mehr buken, wurde auch das Brot im Voraus eingekauft und gelagert. Neben dem Brot durfte auch das traditionelle Bayram Çöreği (ein spezielles Festtagsgebäck) in der Küche nicht fehlen.


Am Abend vor dem Fest legten Ümran und ich unsere neuen Kleidungsstücke und Schuhe sorgfältig neben unser Bett – natürlich vergaßen wir auch nicht, die Sachen unserer jüngeren Schwester Handan bereitzulegen. Früh am Morgen machte sich mein Vater auf den Weg zur Bayram Namazı (Festtagsgebet). Während wir auf seine Rückkehr warteten, zogen wir voller Aufregung unsere neuen Bayram-Kleider an und liefen auf den Balkon hinaus, um mit Ümran das traditionelle Festtags-Mani zu rufen: "Koz ağaçtan top atılcek, Baklavaya tat atılcek!" (Die Kanone aus Walnussbaum wird abgefeuert, und die Baklava wird mit Sirup getränkt!) Kurz darauf wurde der Bayram-Top (Festtagskanone) abgefeuert, was das offizielle Signal für den Beginn des Zuckerfestes war. Danach begann unser festliches Frühstück. Die Küche befand sich im mittleren Stockwerk unseres Hauses, und das Frühstück wurde im angrenzenden Speiseraum serviert. Heute würde man unser Haus als „Triplex“ (dreistöckiges Einfamilienhaus) bezeichnen, aber damals war uns die architektonische Besonderheit gar nicht bewusst.


Nach dem Frühstück begann das traditionelle Bayram-Ritual. Meine Mutter küsste meinem Vater respektvoll die Hand – ein fest verankerter Teil des Feiertagsrituals. Danach waren wir Kinder an der Reihe: Wir küssten die Hände unserer Eltern und bekamen voller Freude unsere erwarteten Bayram Harçlıkları (Festgeldgeschenke). Mein Vater war ein Mann der Details – er hatte die Baklava bereits am Vorabend sorgfältig in kleine Sterne geschnitten, und nachdem die Kanone abgefeuert worden war, wurde die duftende Süßspeise mit Zuckersirup getränkt und serviert.


Der erste Besuch führte uns immer zu den Großeltern. Mit einer eigens für die Besuche vorbereiteten Geldtasche gingen wir von Haus zu Haus, küssten die Hände der Älteren und sammelten stolz unser Festgeld. Innerhalb der Familie rechneten wir eifrig aus, wie viel wir bereits zusammen hatten. Manche Verwandte gaben uns zusätzlich ein hübsches Taschentuch zusammen mit dem Geld, während andere nur das Taschentuch überreichten – sehr zu unserem Missfallen. Diese Taschentücher landeten dann meist als „Temizlik Mendili“ (Sauberkeitstücher) in der Schule, wo unser Lehrer Sabri Bey regelmäßig unsere Fingernägel kontrollierte.


Das Kurban Bayramı hingegen hatte für mich eine bittersüße Bedeutung. Schon Tage vor dem Fest wurde das Opfertier ins Haus gebracht, seine Wolle mit Henna bemalt, und es wurde sorgsam gepflegt. Doch der Moment des Schlachtens fiel mir schwer. Auch wenn ich wusste, dass es eine religiöse Pflicht war, konnte ich es nicht ertragen, den Abschied des Tieres mitzuerleben. Ich versteckte mich und wollte das Geschehen nicht sehen. Nach dem Schlachten wurde das Fleisch in drei Teile aufgeteilt – ein Drittel blieb für unsere Familie, während der Rest an Bedürftige verteilt wurde.


Für meine Mutter war das Opferfest immer besonders arbeitsintensiv. Das Fleisch musste verarbeitet, die Innereien gereinigt und der Kopf zum Bäcker gebracht werden, um dort geröstet zu werden. Doch sobald diese Aufgaben erledigt waren, begann der freudige Teil – die Besuche und Feierlichkeiten. Der schönste Moment beider Feiertage war für uns Kinder jedoch das Sammeln der Harçlık-Gelder und das anschließende Fest auf dem Marktplatz. Während der Bayram-Tage wurde der Platz in ein kleines Volksfest verwandelt. Gaukler kamen in die Stadt, es wurden Schaukeln und ein hölzernes Riesenrad aufgestellt. Letzteres war zwar eher mit einer Konstruktion aus Gemüse-Transportkisten vergleichbar, aber für uns war es nicht weniger als unser eigener Disneyland-Traum.


Nachdem wir eine Runde mit dem Riesenrad gefahren waren, folgte der nächste Programmpunkt: die Schaukeln. Anschließend investierten wir unser verbliebenes Geld in Plastikspielzeuge, und falls noch ein wenig übrig blieb, kauften wir uns Pamuk Helva (Zuckerwatte), Horoz Şeker (bunte Hahn-Lollis) und süßen Macun (türkischen Zuckersirup, der kunstvoll mit einem Spatel aus einer großen Schüssel gedreht wurde).

Die Feiertage unserer Kindheit waren eine einzigartige Mischung aus Tradition, Freude, Aufregung und unvergesslichen Erinnerungen. Sie waren nicht nur eine Gelegenheit zum Feiern, sondern auch ein tief verankerter Bestandteil unserer Kultur – eine Zeit, in der Familie, Gemeinschaft und Traditionen im Mittelpunkt standen. Heute, wenn ich an diese Tage zurückdenke, spüre ich noch immer die Magie, die in diesen einfachen, aber wertvollen Momenten lag.


Cahit Sıtkı Tarancı beschreibt in seinem Gedicht „Çocukluk“ (Kindheit):

"Meine Drachen steigen höher als die Wolken, meine Springseile glänzen strahlend hell. Wie schön dreht sich mein Reifen, ach, wenn mein Hahn-Lolli doch nie enden würde."

Ja, wenn unser Hahn-Lolli doch niemals enden würde… Wenn wir doch einfach Affan Dede ein paar Münzen hinlegen und unsere Kindheit zurückkaufen könnten! Aber es ist schön, sich an diese Momente zu erinnern – und es ist ein Glück, dass wir überhaupt Erinnerungen daran haben.


Neben den Feiertagen gab es noch ein weiteres Fest, das wir als Kinder mit Spannung erwarteten: Hıdırellez, das Frühlingsfest, das die Wiedergeburt der Natur verkündet. Der Legende nach treffen sich in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai die Heiligen Hızır und İlyas (Elijah) auf der Erde, um den Menschen zu helfen. An diesem Tag wünschte man sich etwas und band seinen Wunsch an den Zweig eines Rosenstrauchs.


In Demirci begannen die Hıdırellez-Feierlichkeiten jedoch schon einige Wochen früher. Auf dem Çereşe-Platz und in der Nähe des Sportplatzes versammelten sich Händler, es wurden Spiele gespielt und Aufführungen veranstaltet. Am eigentlichen Tag von Hıdırellez bemalten wir unsere Eier und traten in kleinen Wettkämpfen gegeneinander an, indem wir die Eier aneinanderstießen, um zu sehen, welches am längsten ganz blieb. Am Abend wurde ein großes Feuer entzündet, um das wir uns versammelten. Die Mutigen unter uns sprangen über die Flammen. Sefer, aus der Familie Hilli, war unser unbestrittener Meister im Feuerspringen – keiner konnte so elegant und furchtlos über das Feuer gleiten wie er. Manchmal gesellten sich auch unsere Mütter zu uns, und selbst sie sprangen voller Lebensfreude über die Flammen.


Erst viel später erfuhr ich, dass das Springen über das Feuer eine symbolische Bedeutung hatte – es sollte Unglück vertreiben und Glück bringen. Während die Feiertage uns Glücksmomente schenkten und Hıdırellez den Frühling begrüßte, ließen wir in Demirci eine Kindheit voller unvergesslicher, festlicher Tage hinter uns. Mit der Zeit wurden wir älter, und das Leben stellte uns vor neue Herausforderungen. Doch wir lernten, die Schönheit des Lebens zu genießen und seine Schwierigkeiten mit Mut und Entschlossenheit zu meistern.



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